Neukölln Unlimited

rap.de: Wie authentisch sind denn Reaktionen und so was, wenn die wissen, dass Ihr kommt?

Dietmar: Es ist superauthentisch. Es ist natürlich schwierig, das nachzuvollziehen, weil man nie jemanden auf einen Dreh mitnehmen kann. Jeder, der das erste Mal dabei ist, wird als Fremdkörper wahrgenommen und man verhält sich wieder ganz anders. Deshalb unterscheiden sich die Bilder vom ersten und vom letzten Drehtag auch so. Irgendwann, und das sagen eigentlich alle, die den Film gesehen haben, ist es einfach erstaunlich, dass nie ein Blick in die Kamera kommt. Natürlich haben wir drauf geachtet, so was raus zu schneiden, aber es war dann auch einfach so selten, dass Blicke in die Kamera kamen. Wir waren da, haben uns in die Ecke gestellt und die Sache laufen lassen.

Agostino: Was natürlich auch nicht heißt, dass sie die Kamera nicht bemerkt haben. Das sind Künstler und die wissen sich auch ein bisschen in Szene zu setzen. Bei Maradona war das sehr oft der Fall, dass er sich so selbst inszeniert hat. Da haben wir dann einfach die Kamera laufen lassen und irgendwann ergibt es sich von selbst, dass seine ganze Energie abgelaufen ist und wir uns auf das Wesentliche konzentrieren können. Wir haben die Kamera immer an gehabt, weil sich die Situation sehr schnell ändern kann.
Du hast zehn Minuten nur Quatsch und urplötzlich kommen dann ein, zwei Sätze oder ein ernstes, wichtiges Gespräch, in dem sie die Kamera gar nicht mehr bemerken. Unser Anspruch war es da schon, das so Cinema Vérité mäßig zu machen. Die Kamera einfach laufen lassen und dann erst im Schnitt zu sehen, was wir benutzen und was nicht. 

Dietmar: Das mit den Begriffen stimmt jetzt aber nicht. Es ist der Direct Cinema Stil, aber es ist auch eine neue Form. Cinema Vérité wäre mehr so wie das, was Michael Moore macht.

Agostino: Nee!

Dietmar: Doch, doch, doch.

Agostino: Das ist Selbstinszenierung. Direct Cinema!

Dietmar: Nein, das ist was anderes. Aber ich erkläre dir die Definition nachher gerne noch mal. Das wird oft verwechselt.

rap.de: Hast Du dein Treatment eigentlich noch mal umgeschrieben während der Arbeit?

Agostino: Der hauptdramaturgische Spannungsbogen ist geblieben, das war so das Gerüst. Aber zum Beispiel diese "Supertalent“-Sache mit Maradona, hat sich erst so ergeben und somit wurde auch das Treatment ein bisschen umgeschrieben. Es gab zum Beispiel auch parallele Geschichten, die da so passiert sind, die wir auch gefilmt hatten und die im Treatment drin waren, die dann aber ins Nichts geführt haben. Bei Lial gab es zum Beispiel noch Szenen, die wir mit ihrem Freund gedreht haben, aber da hat man schnell gemerkt, dass der gar nicht will. Da muss man das Skript dann eben noch mal umschreiben.

Dietmar: Man muss schon versuchen, möglichst nah am Buch dran zu bleiben, aber wenn mit unserer Familie, unseren Hauptpersonen was passiert, wenn die zum Beispiel tatsächlich abgeschoben worden wären, dann hätten wir das total über den Haufen schmeißen und reagieren müssen.

rap.de: Hattet Ihr das Gefühl, denen manchmal auf die Nerven zu gehen?

Agostino: Das war manchmal bei der Mutter der Fall. Die hat uns schon fast immer willkommen geheißen und wir sind bei ihr Zuhause immer noch willkommen, aber es gab schon Momente wo man gesehen hat, dass wir ihr auf die Nerven gehen. Das hat sie den Kindern zuliebe dann über sich ergehen lassen. Wenn man jetzt sechs Kinder und ein Baby hat, was die ganze Zeit schreit, und dann ist noch eine Kamera-Crew da, die dich auf Schritt und Tritt verfolgt, dann ist klar, dass dir das auf die Nerven geht. Wir haben versucht, uns so weit wie möglich im Hintergrund zu halten und die meiste Zeit haben wir sie auch nicht genervt. Man entschuldigt sich dann auch und sagt, dass es sehr wichtig war, was man heute gedreht hat. Die Mutter hat das dann auch verstanden.

rap.de: Hat man da das Problem, dass man sich irgendwann als Teil der Gruppe empfindet und der gewisse Abstand fehlt?

Agostino: Das ist eine Grenze, die man als Filmemacher nicht überschreiten sollte. Auf der einen Seite sollte man sich gegenseitig schon so gut kennen, dass man sich vertraut. Auf der anderen Seite darf man kein Teil des Geschehens werden. Dann ist das nämlich kein Dokumentarfilm mehr, sondern wird ganz schnell zum Spielfilm, wo man den Leuten auch Anweisungen gibt. Das ist das Schlimmste, was du als Dokumentarfilmer machen kannst.

Dietmar: Dann wird es Michael Moore mäßig.

rap.de: Jetzt gibt es zwei Themen, wo man als westeuropäischer Sozialdemokrat an seine Grenzen stößt: Israel und Homosexualität.

Agostino: Ich bin ja selber schwul und bin trotzdem seit drei Jahren bei denen willkommen. Die arbeiten auch am Theater mit vielen Schwulen und Lesben und das ist mit denen kein Thema. Mit Juden gibt es da auch kein Problem. Das sind halt immer so die zwei Klischeefragen bei Muslimen und ich kann das schon nachvollziehen, aber…

rap.de: Das ist aber Realität. Diese Diskussionsfelder hat man.

Agostino: Ja, aber diese Diskussionsfelder hast du auch bei den Deutschen, wenn du nach Bayern gehst.

Dietmar: Diese Familie ist auch tolerant und so wurde man da auch akzeptiert.

Agostino: In Bayern würde man auch nicht sofort fragen, wie die zu Schwulen stehen. Bei jugendlichen Muslimen ist das eher der Fall. Es gibt auch genau so viele Muslime, die nicht intolerant sind.

rap.de: Das würde mich jetzt aber interessieren. In der Presse hört man immer von den negativen Spitzen, wie seht Ihr da das Gefälle in der muslimischen Community?

Agostino: Schon zum Großteil so, dass das konservativ ist. Wenn Religion eine große Rolle im Leben spielt, egal ob bei Katholiken oder bei Muslimen, hat man halt einen konservativen Weltblick. Es gibt aber bei den Muslimen auch viele, die Agnostiker sind. Die glauben zwar an Allah, gehen aber nicht fünf Mal am Tag beten oder in die Moschee oder richten ihr Leben nach der Religion aus. Ich nehme die Leute, wie sie sind und ich kenne solche und solche. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, wie viele so sind und wie viele moderner sind. Ich glaube aber, dass es immer gut ist, wenn die Veränderung aus der Community selbst kommt.

rap.de: Wir bedanken uns für das Gespräch und wünschen viel Erfolg mit dem Film.