Vasee über seine Pilgerreise

rap.de: Was geht denn im Kopf ab, wenn man den ganzen Tag läuft? Denkt man da viel nach oder wird der Kopf irgendwann einfach leer?

Vasee: Das war eigentlich dreißig Tage lang eine Gehirnwäsche. Man bekommt erstmal extrem viel Sauerstoff, durch das Laufen. Dann entschlackst du, ich habe 15 Kilo abgenommen, was auch ein Reinigungsprozess ist. Irgendwann fühlst du dich topfit, nicht nur körperlich, sondern auch mental. Das ist passiert. Die Prioritäten haben sich auch verschoben. Meine größten Probleme habe ich am Anfang abgearbeitet, umso mehr ich gelaufen bin, umso mehr habe ich gemerkt, dass ich mich frei mache davon. Irgendwann war ich komplett frei. Da habe ich mich so gefühlt, als ob innerlich etwas abgeschnitten worden wäre. Ich glaube, das passiert beim Pilgern jedem. Du atmest extrem viel Sauerstoff und hast dadurch eine ganz andere Auffassungsgabe, siehst die Sachen ganz anders. Dadurch, dass du mit dem Laufen beschäftigt bist, ist da immer eine Bewegung drin, dabei denkt man einfach besser. Das ist einfach so.

rap.de: Nimmt man davon etwas dauerhaft mit oder ist das nach der Pilgerfahrt einfach vorbei?

Vasee: Definitiv nimmt man was mit. Ich bin bis heute noch nicht richtig angekommen. Ich habe mir drei Monate Zeit genommen, mich in eine Richtung zu entwickeln und zwar in sämtliche Richtungen, in die ich gehen will, ich konnte mich den Leuten so präsentieren, wie ich selbst im Augenblick war, ohne Vorbelastung, ohne Vorurteile. Die kannten mich ja nicht. Das ist eine wunderschöne Sache. Wir sind ja meistens von Leuten umgeben, die uns kennen, unsere Fehler, unsere Schwächen, alles drum und dran. Egal, auch wenn etwas zehn Jahre hinter uns liegt, tragen die das immer mit sich, in ihrem Blick auf uns. Und das spürt man. Ich habe mich drei Monate in eine Richtung entwickelt, die mir selbst sehr gefallen hat. Und dann kommst du zurück nach Deutschland und auf einmal kommt der alte Vasi, der von vor den drei Monaten, der die Wohnung eingerichtet hat, der seinen Arbeitsplatz hat und seine Rechnungen, der spielt auf einmal wieder die Hauptrolle. Und das ist eine ganz schwierige Sache. Gottseidank war meine Mitbewohnerin drei Monate in Indien, so dass wir uns dieses Gefühl teilen konnten. Sie war an genau dem Punkt wie ich, es war gar nicht so einfach, sich wieder zu integrieren. Auch die Geschwindigkeit. Durch das Laufen hatte ich ein ganz anderes Tempo als hier in Deutschland, wo alles so schnell gehen muss.

rap.de: Die Organisiertheit des Alltags.

Vasee: Ja. Nach den drei Monaten stand ich an der Kreuzung und es war mir alles zu schnell. Und das sind Sachen, mit denen du im Vorfeld nicht rechnest, bevor du dich auf die Pilgerreise machst. Letztenendes waren alle meine Pläne und Vorstellungen nicht richtig. Du weißt ja nicht, was dich erwartet. Du hast keine Ahnung, was da kommt.

rap.de: Kommen da manchmal auch unangenehme Sachen hoch, die man verdrängt hatte?

Vasee: Ja, auf jeden Fall. Das war sogar einer der Hauptgründe, warum man das macht. Es geht ja darum, sich selbst wiederzuentecken. Das meine ich auch, wenn ich in "Lauf" singe, ich will mich verlieren. Ich will diese Person, die ich jetzt bin, verlieren, um den Kern in mir zu entdecken. Ich stelle mir das wie einen Schreibtisch vor, auf den man tagtäglich tausend Sachen gelegt bekommt – Einflüsse von außen. Auf so einer Pilgerreise kannst du das alles wunderschön abarbeiten, bis der Schreibtisch leer ist und dann merkst du, was du auf den Schreibtisch gekritzelt hast, was praktisch deine Bestimmung ist. Das passiert nur, wenn du dich von allem distanzierst und dir alles aus der Distanz anschaust. Kuckst, was mache ich eigentlich richtig? Lässt sich das nicht intelligenter einrichten? Ich sage auch jedem, nimm meinen Rucksack, ich leihe ihn dir, wenn du sowas ähnliches machen willst. Und wenn er nur zwei oder drei Tage laufen will (lacht). Tua sagt gerade, das erste, was ihr bekommt, ist eine Anfrage, wo man meinen Rucksack bekommen kann.

rap.de: Können wir den vielleicht verlosen?

Vasee: Ich habe es tatsächlich jemandem gesagt, der jetzt den kompletten Rucksack nimmt und geht damit nach Thailand. Der will da vier Wochen irgendwelche Berge besteigen. Dafür muss er dann halt einen Thailand-Sticker draufmachen, irgendwann sind dann ganz viele Sticker auf diesem Rucksack. Aber nochmal wegen der Schwierigkeiten, die da in einem hochkommen: Ich habe ja jeden Tag zehnmal ans Aufgeben gedacht. Es gibt ja nichts und niemanden, der dich motiviert, den Weg wirklich zu gehen. Und nach 180 Kilometern, für die ich ganz lange gebraucht habe, ich glaube, zehn Tage oder so, stehst du dann auf einmal vor den Alpen und weißt, okay, ich muss jetzt vier Berge überwinden, fast 2000 Meter. Das ist krass. Und kein Mensch sagt zu dir: Du musst. Und dann fängt es an zu regnen. Tausend Sachen passieren und du denkst dir jedesmal, ach, ich nehme jetzt die Scheiß Straßenbahn oder leih mir ein Fahrrad und fahr ein Stück. Tausendmal am Tag kommen solche Gedanken. Einmal ging das über Tage hinweg. Da habe ich drei, vier Tage gedacht, Alter, ich hör jetzt einfach auf, ich nehm einfach den Zug und fahr ans Meer und lass es mir gutgehen, wieso gebe ich mir den Stress? Aber trotzdem läufst du weiter. Kurz vor Venedig hatte ich einen harten Oberschenkel, ich hatte Blasen an den Füßen, Schmerzen am ganzen Körper. Aber ich bin trotzdem weitergelaufen. Und wenn du dann in Venedig ankommst, ist das innerlich eine ganz krasse Sache. Dadurch bekommst du das Gefühl, dir nichts mehr beweisen zu müssen, das ist vielleicht das größte Geschenk, das ich durch die Reise bekommen habe. Du läuft 900 Kilometer über die Alpen und denkst dir, okay, was soll jetzt noch kommen? Ich habe im Wald geschlafen, auf Feldern, und der Schnee, und der Sturm. Am Schluss denkst du dir, wow, was soll jetzt noch kommen?