2014. Kalim veröffentlicht mit „Sechs Kronen“ sein Debüt bei Alles oder Nix. Alle lieben es. Die JUICE vergibt bei Mixtapes zwar keine Kronen-Wertungen, aber zumindest in die Nähe der namensgebenden Höchstwertung hätte Kalim durchaus vordringen können.
2016. Debütalbum. „Odyssee579“. Der markige 90’s-G-Funk weicht einem modernen Soundbild, der Charakter Kalim wird finsterer und skrupelloser. Alle lieben es. Songs wie „Plan B“, „Zahltag“ und „8QM“ liefern noch heute Zeugnis von einem der vielversprechendsten Straßenrap-Newcomer überhaupt. Unbändiger Hunger und eine serifenlose Wortwahl ohne große Umschweife machen Kalims erstes Album noch heute zu einem Must-Hear.
2017. Das berüchtigte zweite Album. Die Messlatte liegt hoch. „Thronfolger“ überspringt sie. Kalim perfektioniert seine eigene Formel. Er bleibt hart, unzähmbar, hat aber mit Songs wie „Tresi“ und „38er“ veritable Hits im Gepäck, außerdem die halbe deutsche Straßenrap-Elite zu Gast. Alle lieben es.
2018. Kalim steht nicht mehr bei Alles oder Nix unter Vertrag. Neuerdings veröffentlicht der Hamburger übers Major Universal. „Safe“ soll noch dieses Jahr ein Album erscheinen, verkündet er. Tut es nicht, nur die Single „Offenes Verdeck“ gibt es. Plötzlich proklamiert Kalim, er sei ein Rockstar, der mit offenem Verdeck durch Hamburg cruisen und seinen Vorschuss verballern würde. Der zornige Gewalttäter mit gefährlich kurzer Zündschnur weicht einem Travis-Scott-Verschnitt, der offenbar lieber die Füße hochlegt als Schulden einzutreiben.
2019. Mit fast einem Jahr Verspätung erscheint „Null auf Hundert“. Der Titel muss irgendwie verdreht worden sein. Kalim geht von Hundert auf Null in nur einem Album. Wo einst Energie, Aggression und glaubhafte Emotionen waren, herrschen nun Gleichgültigkeit, Ideenarmut und Monotonie vor. Der kraftvolle Vortrag von damals wird zwar technisch weiterhin umgesetzt, verhallt aber lasch im Nichts. Kalim scheint sich selbst nicht mehr zu glauben, was er da erzählt. Man stelle nur mal die Handfeuerwaffen-Hymne „sig sauer“ neben ihren großen Bruder „38er“. Während „38er“ den Hörer aufrüttelt und mitreißt, fühlt sich „sig sauer“ an wie ein seelenloser Filler – dabei soll der Song ohne Frage einen der Leuchttürme auf „Null auf Hundert“ darstellen.
Kalims Alben funktionierten schon immer so. Einzelne Highlights trugen den Langspieler. Was dazwischen geschah war gut, verdichtete die Atmosphäre, vertiefte den authentischen Straßen-Charakter Kalims, stellte aber vor allem die Weichen für den nächsten Ausbruch. Während „Thronfolger“ mit „VVV“ in einem unvergesslichen Gänsehaut-Moment gipfelte, stellt „Null auf Hundert“ unverfrorenerweise „Offenes Verdeck“ ans Ende der nur zwölf Songs. Eigentlich eine kompakte Länge, zumal lediglich „1 L henny“ überhaupt die 3-Minuten-Marke knackt. Doch nicht mal als halbstündige EP fühlt sich „Null auf Hundert“ interessant an. Jeder Song klingt wie der davor und der danach. Packende Momente, wie sie bisher Kalims Steckenpferd waren, bleiben komplett aus. Komplett.
Klar, die Produktionen sind trotz ihrer ermüdenden Gleichförmigkeit und der Reißbrett-Kompositionen hochwertig. Kalim ist und bleibt außerdem ein begnadeter Rapper, daran ändert auch ein uninspiriertes Album voller Füllmaterial nichts. Aber egal, wie viele Liter Henny Kalim und seine austauschbaren Gastrapper sich in den Wanst würgen – „Null auf Hundert“ klingt nicht, als hätte irgendjemand der Beteiligten Spaß an der Albumproduktion gehabt.
Dem zornigen, hungrigen Jungen von der Straße, der am „ZahlTag“ so authentisch wie mitreißend über die Stränge schlägt und auf „1994“ ernsthaft über die Schattenseiten seines Handelns sinniert, weicht einer leblosen Hülle, die sich zwar nach wie vor auf die technische Umsetzung der eigenen Formel versteht, emotional aber völlig abgekoppelt von der eigenen Musik zu sein scheint. Davon liefert selbst das nichtssagende Cover Zeugnis ab. Bleibt nur zu hoffen, dass „Null auf Hundert“ ein Aussetzer bleibt und Kalim sich nicht in die endlose Reihe generischer 808(15)-Straßenrap-Klone einreiht.
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- Urban (Universal Music) (Herausgeber)