Mutlu Ergün

rap.de: Kommt es in den Trainings nicht zu starken Emotionsausbrüchen? 
 
Ergün: Wie gesagt, wir versuchen verbalen Durchfall zu vermeiden und in den Trainings einen Raum zu schaffen, sowohl für Weiße als auch für People of Color, damit sie sich im Training sicher und aufgefangen fühlen. Da wir wissen, dass es ein sehr emotionales Thema ist, gehen wir sehr sensibel damit um. Ich denke, in den Trainings wird schon deutlich, dass es nicht um Schuldzuweisung geht, sondern darum, die eigene Verantwortung in der Gesellschaft mehr wahrzunehmen.    
 
rap.de: Teil des Hip-Hop-Trainings sind auch Textanalysen von 2Pac, Queen Latifah, dead prez, Toni L. oder den Brothers Keepers.  
 
Ergün: Ja, denn manche Rap-Texte, wie zum Beispiel "Dummerweise“ von Toni L., gehen genau auf die Thematik ein, die wir in den Trainings besprechen: Sozialisation. Wir lernen bestimmte Dinge, die eigentlich totaler Quatsch sind. Solches Arbeitsmaterial ist für jeden Trainer einfach ein Traum! Denn es ist die Sprache und Kultur der Jugendlichen – und gleichzeitig kritisch. Ein großer Aha-Effekt tritt häufig ein, wenn wir fragen: Wieso werden eigentlich Hip-Hopper, die eine starke politische Message haben, viel weniger promotet als Hip-Hopper, die bestimmte stereotype Bilder von Schwarzen reproduzieren? Warum ist es für ein weißes Publikum attraktiver, sich 50 Cent reinzuziehen, der von "Bitches“ und sonst was labert? Doch warum hat das weiße Publikum noch nie was von dead prez gehört, die mit ihren Texten knallharte politische Realitäten bloßlegen und angreifen? Der Aha-Effekt tritt meist ein, wenn die Jugendlichen verstehen, dass die Hip-Hop-Kultur, die sie, meistens sehr unkritisch, konsumieren, auf historische Prozesse zurückgeht, die viel mit Widerstand von People of Color zu tun haben. Ein Beispiel: die Kontinuität von Capoeira und Breakdance. Denn auch die Widerstandskultur, die hinter Capoeira steckt, ist in die Hip-Hop-Kultur mit eingegangen. Wenn Jugendliche anfangen, diese Kontinuität zu erkennen, dann ist das so als würde ein Schalter umgelegt werden.  
 
rap.de: Wie sieht die kritische Auseinandersetzung mit "Gangsta“- und anderem kommerzialisierten Rap aus? 
 
Ergün: Es geht darum, den Jugendlichen klarzumachen, dass sie bewusster konsumieren sollen. Es geht nicht darum, zu sagen: "Das ist alles totaler Schrott und hört Euch das nicht an!“ Wir sagen: "Schärft Euer kritisches Bewusstsein! Hört Euch die Sachen an, aber überlegt Euch, was diese Texte eigentlich widerspiegeln und was sie reproduzieren!“ Ich bin ja auch ein riesiger Fan von Missy Elliot oder Timbaland. Aber ich versuche schon, zu kucken, was der Künstler eigentlich sagt: Ist das wirklich etwas, das ich mir konstant anhören und reproduzieren will?  
 
rap.de: Euer Ausgangspunkt in den Hip Hop-Trainings ist, dass Hip Hop aus einer Protest-Kultur heraus entstanden ist –  in der Szene wird diese Auffassung aber immer wieder in Frage gestellt und anstatt von Protest- eher von Party-Kultur gesprochen.  
 
Ergün: Ich würde sagen, dass Party- und Protest-Kultur sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Natürlich hatte Hip-Hop immer auch mit Party zu tun. Aber ich glaube auch, dass es gerade in den Anfängen auch viel darum ging, ein Sprachrohr zu entwickeln. Ich denke auch, dass Hip-Hop schon deswegen eine Protest-Kultur ist, weil es aus einer marginalisierten Perspektive heraus entstanden ist. Graffiti kann man zum Beispiel auch als eine Art zivilen Ungehorsams auslegen. Und die Party ist auch das Zelebrieren einer Kultur, die von der Mainstream-Kultur auf bestimmten Ebenen abgelehnt wird. Für unsere Trainings ist Hip Hop bestens geeignet, da im Hip Hop immer auch über Rassismus gesprochen wird. Anhand der Geschichte der African Americans kann man viel über globalen Kolonialismus erfahren und welchen Einfluss dieser auch auf unsere Kultur in Deutschland hat.  
 
rap.de: In den Trainings wird auch die Frage aufgeworfen, inwiefern sich der amerikanische Diskurs über das Konstrukt „Rasse“, „Weiß-Sein“ und Rassismus auf Deutschland übertragen lässt – habt Ihr schon eine Antwort darauf? 
 
Ergün: (lacht) Das ist sehr komplex. Ich glaube, dass wenn es um den Diskurs Weiß-sein und Rassismus geht, Deutschland noch ein Entwicklungsland ist. England ist Deutschland vielleicht zehn Jahre voraus, die Staaten sind Deutschland vielleicht 20 Jahre voraus. Trotzdem ist es schwierig zu übertragen, weil es dort ganz andere politische Grundlagen gibt. Es ist auch nicht so, dass England oder Amerika das Paradies ist. Da gibt es genauso viel Rassismus wie in Deutschland. Aber in den deutschen Medien sind Dinge möglich, die in England undenkbar wären. 
 
rap.de: Im negativen Sinne möglich. 

Ergün: Genau. Was in England undenkbar wäre, findet in Deutschland statt, man erlebt es ständig: "Ja, in Deutschland haben wir ja gar keinen Rassismus.“ Das sind diese ganzen Verdrängungsmechanismen, die da hochkommen: "Weiß-sein? Darüber redet man vielleicht in Amerika, wo’s Rassismus gibt, aber macht es dann Sinn, das auf Deutschland zu übertragen?“ So was sehen wir uns an und fragen uns: Wie sollen wir Rassismus thematisieren? Wie können wir antirassistisch arbeiten, wenn wir bestimmte Begriffe nicht verwenden können? Man kann die Situation in England oder Amerika nicht 1:1 auf Deutschland übertragen kann, weil sich die Systeme eben voneinander unterscheiden. Aber es gibt bestimmte Elemente, wo sich die Deutschen schon noch etwas abkucken könnten. 
 
rap.de: Hast Du aus den Hip-Hop-Trainings schon eine besondere Erkenntnis gezogen – oder anders gefragt: Funktionieren die Trainings?  
 
Ergün: Ich hoffe es. Es ist schwierig, das über einen längeren Zeitraum mitzubekommen. Aber manchmal habe ich schon gedacht: Wow, es besteht Hoffnung! Es gibt unglaublich viel Potential, vor allem bei jungen Leuten, was eigentlich nur aktiviert werden muss, damit kritisches Denken in Gang gebracht wird. Ich habe das in den Trainings immer wieder erlebt. Ältere Leute akzeptieren viele Sachen dann doch als gegeben, was vielleicht auch eine Verdrängung oder Resignation widerspiegelt, was aber dann auch viel schwieriger zu überwinden ist. Trotzdem ist es möglich!  
 
rap.de: Wie siehst Du die Entwicklung von Rap in Deutschland? 
 
Ergün: Bei der Edutainment Attacke überlegen wir gerade, ob wir nicht den Track "Fremd Im Eigenen Land“ von Advanced Chemistry mit in die Show aufnehmen. Der Track ist schon fast 20 Jahre alt – doch die Jugendlichen heute kennen ihn nicht. Dabei ist der Song immer noch brandaktuell! Aber es gibt auch heute einige Leute, zum Beispiel Tibor Sturm von Quiet Storm, aber sie sind nicht sehr bekannt. Samy Deluxe redet auf seinem neuen Album ja auch übers Jung-sein, übers Schwarz-sein und übers Deutsch-sein. Es kann sein, dass da wieder was kommt, es gibt ja immer wieder solche Phasen. Aber wie intensiv und wie nachhaltig das sein wird, ist natürlich noch die andere Frage.