In unserer Interviewreihe “Rap und Literatur” geht es um das Verhältnis von HipHop-Künstlern zu Literatur und Sprache. In dieser Folge gibt Tua uns eine Einführung in den Transhumanismus. Es geht auch um Charles Bukowski. In Bezugnahme auf Ernest Hemingway hat der Rapper einen ultimativen Tipp für alle Songwriter.
Edward Hopper ist jetzt kein Schriftsteller, sondern ein Maler, aber auf deiner „Stevia“-EP spielt er ja eine wichtige Rolle.
Auf „Stevia“ kam er zur Sprache – sogar als Liedtitel. Edward Hopper ist ein Maler des Amerikanischen Realismus. Diese Kunstgattung macht eine ganz akurate Malweise aus. An Hopper selbst faszinieren mich verschiedene Dinge. Mich fasziniert, dass er ganz künstleruntypisch ein spießiges Leben geführt hat. Er war Zeit Lebens mit einer Frau verheiratet und hat auf dem Land gewohnt. Er war nicht der Rock ’n‘ Roller. Wahrscheinlich war er auch charakterlich ein ziemlich ausgeglichener Mensch. Und er hat Bilder gemalt, die mir vor allem gefallen, weil er darin ganz analytisch betrachtet, was das Wesentliche der gemalten Situation ist. Alles andere hat er weggelassen. Das gefällt mir sehr gut. Ich merke, dass ich mich über die Jahre hinweg musikalisch auch in die Richtung entwickelt habe – und auch weiterhin entwickeln möchte: Dinge auf das Wesentliche zu beschränken. Früher war ich da anders; ich war mehr so: noch mal eine drauf, noch mal einen drauf, noch mal einen drauf. Mittlerweile mag ich das Puristische mehr.
Hast du während der Orsons-Tour ein Buch zur Hand?
Nein, aber, was ich immer mal wieder abends lese, sind die „Maximen und Reflexionen“ von Johann Wolfgang von Goethe. Das liest sich zum Teil ganz schön dämlich: Man kann nicht alles, was er sagt, unterschreiben. Natürlich ist er ein Geist seiner Zeit, aber vieles ist einfach so essentiell. Man kann entweder diese Essenz in Literatur formen und sich als Leser darüber freuen, wie es gemacht ist. Man kann aber das weglassen und gleich in den Kern seiner Erkenntnisse gehen. Für so zwischendurch mal finde ich das ganz geil. Es ist übrigens auch bezeichnend, dass ich es auf dem iPad lese. Ich finde es geil, dass ich Goethes „Maximen und Reflexionen“ auf einem iPad im Tourbus lese. Das ist richtig heute.
Ja, das hat etwas absurdes. Mit Maeckes habe ich schon darüber geredet: @NeinQuartely; er ist durch dich auf dieses Twitter-Phänomen gestoßen.
Ja, der Dude folgt mir, Alter. Ich bin richtig stolz. NeinQuarterly, also Eric Jarosinski. Ich weiß gar nicht mal mehr, wie ich auf ihn gestoßen bin. Ich finde ihn einfach geil. Wissen wahrscheinlich alle, wer das ist, oder soll ich mal kurz erklären, wer das ist?
Erklär mal, bitte!
Eric Jarosinski ist ein Germanistik-Professor aus Massachusetts. Ein US-Amerikaner, der perfekt Deutsch kann, weil er halt Germanistik-Professor ist. Er hat irgendwann angefangen zu twittern und macht nihilistische Antiphilosophie. Manchmal ist das lustig, manchmal auch schräg. Und er negiert eben alles, deswegen nein. Mal postet er auf Deutsch, mal auf Englisch. Mittlerweile aber auch auf Niederländisch und alles Mögliche. Einer seiner besten Freunde ist wohl der Präsident von Lettland. Er hängt auch mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek ab. Also eigentlich ist er Philosoph. Er ist, wenn man will, der erste Twitter-Philosoph. Das finde ich ähnlich reizend wie dieses Goethes-Maximen-auf-dem-iPad-lesen. Ich finde, dass das in die gleiche Richtung geht. Und ja, so was fasziniert mich: Wie kann man mit der Sprache und der Technologie von heute substanzielle Informationen herstellen? Das finde ich spannend und das ist auch mein Thema.
Wie meinst du das?
Ich kann dich auch gleich weiter belabern, denn eigentlich beschäftige ich mich die ganze Zeit mit dem Transhumanismus. Das ist auch eigentlich der Kern meiner gerade gestellten Frage. (fängt an zu grinsen) Endlich kann ich mal etwas erzählen. Gott sei dank! (klatscht in die Hände)
Trans-hu-ma-nis-mus? Davon habe ich noch nie gehört.
Transhumanismus ist mehr oder minder eine philosophische Richtung. Es ist auf jeden Fall ein Denkweg. Es ist der Denkweg des Herbeisehnens des Moments, in dem die Technik selbstständig funktionieren kann. Will sagen: der Moment der Singularität der Technik. Ein Computer wird gebaut, der so intelligent ist, dass er sich selbst optimieren kann, lernen kann und so weiter. Will sagen: eine neue Schöpfung.
Ein Computer, der insofern menschlich ist, als er sich entwickelt?
Menschlich ist er nicht unbedingt, aber ein Computer, der so schlau ist, so viele künstliche Intelligenz hat, dass er selbst an sich arbeiten kann – ein autonomer Rechner also. Das ist jetzt auch kein neuer Gedanke. Es gibt ihn schon seit Jahrtausenden. In Mary Shelleys „Frankenstein“ wurde das schon thematisiert. Die Golems zeigen auch, dass der Gedanke alt ist. Dieser Gedanke, dass der Mensch eine Schöpfung schafft, die autonom agiert und den Menschen vielleicht auch übertrifft, ist alt. Der Gedanke war übrigens auch bei Goethe vorhanden – im Gedicht „Der Zauberlehrling“ zum Beispiel.
Das stimmt. Und wieso hat sich der Transhumanismus nicht vorher geformt?
Der springende Punkt ist, dass es heute eine ganze Riege an Wissenschaftlern und Technokraten in den USA gibt, die sagen, dass der Moment, diese Kreatur zu schaffen, alles andere als weit weg sei. Das sagt zum Beispiel Ray Kurzweil, das ist einer der ganz großen und vorlauten Vordenker dieser Richtung. Früher hat er Synthesizer gebaut, ist also Erfinder. Außerdem sitzt er in der Führungsriege von Google. Man kann also sagen, dass im Silicon Valley eine ganz große Bewegung entsteht. Diese Typen sagen: „Die technische Entwicklung der Menschheit verläuft exponentiell. Von der Entdeckung des Feuers bis zum Rad verging so und so viel Zeit; vom Rad zum Auto ging es schneller.“ Und jetzt im Moment sind sie der Meinung, dass diese Entwicklung noch schneller verlaufe. Das erkennt man an Prozessorleistungen zum Beispiel. Als du und ich klein waren, gab es kein Internet. Also klar gab es eins, aber nicht für uns. Als wir klein waren, hatten wir keine Handys. Auf die Leser trifft das vielleicht nicht zu, aber jeder der an die 30 geht, kennt das ja. Außerdem sagen sie: „Die endgültige Aufschlüsselung der gesamten menschlichen Gene und die Manipulationsfähigkeit und so weiter liegt nicht mehr weit hin.“ Das Endziel des Transhumanismus ist: zum einen die Singularität der Technik und zum anderen die Unsterblichkeit.
(flüstere ungläubig) Oh Scheiße!
Jaja, und jetzt wird es nämlich brisant – ethisch, moralisch und in jeder anderen Hinsicht – und kitzelig. Und ich liebe es, mich damit zu beschäftigen. Ich bin noch nicht zu dem Punkt gekommen bin, um mir meine eigene Meinung über den Transhumanismus zu bilden. Weißt du, es fasziniert mich einfach nur.
Das heißt, du beschäftigst dich in deiner Freizeit mit diesem Thema?
Fast ausschließlich.
Ich finde solche Aspirationen ziemlich gefährlich. Ich habe vom Philosophen Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ gelesen. Das Buch erschien 1979. Und auch in diesem Buch geht es um die Folgen einer sehr weitgesponnenen Technisierung der Welt. Einer seiner Kernpunkte ist – ausgehend von der Vernetzung von jedem und allem durch die moderne Technik: Wir können die Folgen unseres Tuns nicht absehen. Sein Vorschlag: Wir machen das, das sicher klappt und gehen nicht aufs Ganze. Der Mensch hat ja mittlerweile die Möglichkeiten, die Erde zu zerstören. Dieses Streben nach Größer-und-Größer, Unsterblicher-und-Unsterblicher ist nicht menschlich. Das Wort perfekt ist nicht menschlich. Genauso wenig ist dieses Vorhaben menschlich.
Nein, menschlich ist es nicht. Auch im Transhumanismus – wie das Wort schon sagt – geht es in keinster Weise um „menschlich“. Da geht es nur um Technik. Guck mal, das ist immer so ein kitzliges Thema. Man kommt ganz schnell an den Punkt der Moral und der Ethik, an dem man sagt: „Oh scheiße, will ich denn, dass mein Kind in einer Welt aufwächst, in der es von – was weiß ich – Maschinen abgeschlachtet wird, oder in einer Welt, in der Menschen sich technisch „enhancen“ – Beine amputieren lassen, um sich dann Prothesen zu holen, die wesentlich leistungsfähiger sind?“ Das klingt alles total futuristisch, aber die Forschung – wohlgemerkt sind das Leute mit einem Haufen Asche – ist heutzutage an einem Punkt angekommen, an dem es gar nicht so futuristisch ist. Oscar Pistorius läuft schon ganz schön schnell mit Prothesen. Ich habe auch gesehen, dass die Amis in Afghanistan ihren Soldaten komische Maschinen an die Beine gemacht haben, damit sie schneller Berge steigen können.
Krass, ja.
Man kommt halt schnell an die Grenze und sagt: „Das ist ja nicht mehr menschlich.“ Wenn man aber vom durchaus beschränkten Standpunkt, dass alles menschlich sein muss, einen Schritt zurückgeht, wird die Sache interessant – und ich lehne mich jetzt bewusst ein wenig aus dem Fenster. Wenn wir uns mal das Ganze, was wir hoch halten, wenn wir „menschlich“ sagen, durch den Kopf gehen lassen, halten wir meistens das Positive hoch. Unterm Strich sind wir Menschen aber richtig scheiße, Alter – richtig für’n Arsch. Ist die Menschlichkeit in seiner ganzen Auswirkung – also auch die schlechten Seiten – die Krone der Schöpfung oder nur eine Zwischenstufe? Transhumanisten sagen, dass wir nur eine Zwischenstufe seien, nur eine Brutstätte für eine höhere Form der Existenz.
Gehen Transhumanisten wirklich so ideell vor?
Das Gebiet ist wahnsinnig divers. Da gibt es unglaublich verschiedene Interessengruppen. Da gibt es rein theoretische oder philosophische Ansichten darüber, die sich mit den folgenden Fragen befassen: Wie ist es, wenn du dich von deiner Körperlichkeit löst? Ist der menschliche Geist vom Körper trennbar? Und wenn ja, was wäre das dann? Das sind theoretische Kernfragen des Transhumanismus. Dann gibt es aber andere, die ganz praktisch vorgehen: Militärs zum Beispiel. Die haben ein ganz logisches Interesse am Transhumanismus: Sie wollen den Supersoldaten kreieren. Das klingt auch nach Sciences Fiction, aber das ist es nicht. Ich erinnere dich nur an mein gerade genanntes Beispiel der US-Soldaten in Afghanistan. Außerdem ist es ja schon ab dem Moment, ab dem du eine kugelsichere Weste trägst, Enhancement. Man ist dann ja durch Technologie optimiert im Kampf. Leute, die solch ein Interesse verfolgen, haben natürlich sehr wenig bis gar kein Interesse an den ethischen Komponenten. Dann gibt es auch ganz viel Feinde dieser Richtung. Leute, die sagen: „Hey, das ist nicht menschlich. Was soll das? Passt auf! Wir werden ausgerottet von dem, was wir da tun.“ Das Feld ist sehr divers. Wie die einzelnen Gruppen vorgehen, unterscheidet sich massiv. Und ich habe nicht mal alle Gruppierungen genannt.
Meine Skepsis gegenüber dem Transhumanismus rührt nicht daher, dass ich so große Stücke auf den Menschen halte. Für mich persönlich ist der Grundnenner dieses so oft nur im positiven gebrauchten Adjektivs „menschlich“ die Fähigkeit zur Schuld, also etwas Negatives.
Das klingt religiös.
Das bin ich aber nicht. Ich bin auf diese Erkenntnis durch einem Text von Milan Kundera gekommen, in dem er über seinen Landsmann Franz Kafka schreibt.
Okay, ich weiß nicht, wie ich dazu stehe. Das weiß ich wirklich nicht. Nochmal ein kleiner Nachtrag um zu verdeutlichen, welchen Stellenwert der Transhumanismus meiner Meinung nach in wenigen Jahren haben wird: Ein aktueller Präsidentschaftskandidat in den Vereinigten Staaten ist Transhumanist. Ich glaube, dass er 2016 kandidieren wird. Zoltan Istvan ist sein Name. Er ist ungarischer Herkunft, aber US-Amerikaner. Der Dude sagt auch: „Ich habe keine Chance – mit einer transhumanistischen Ansicht – Präsident der USA zu werden. Ich kandidiere aber ganz bewusst, weil ich weiß, dass das in zehn oder 20 Jahren das Thema sein wird, um das es gehen wird.“ Früher oder später wird die ethische Komponente eh wegfallen, glaube ich. Dann wird man nicht mehr darüber reden, ob es noch in Ordnung sei. Man wird einfach sagen: „Wir müssen das machen.“ Wenn man sich mal vorstellt, dass in ein paar Jahrzehnten die Erde so sehr zerstört ist – Umweltzerstörung – und es einen transhumanistischen Geniestreich gibt, um diese Umweltzerstörung zu mindern, dann könnte das so sein. Und um das mal ein bisschen weiterzuspinnen – sorry, ich bin voll in der Materie und kann nicht aufhören, darüber zu reden.
Rede, rede!
Um das mal weiterzuspinnen: Was passiert, wenn die Menschheit in ihrer jetzigen Form seinen Lebensraum auf einen weiteren Planeten ausbreiten möchte?
(Ich schmunzele, weil mir das undenkbar erscheint.)
Ja, deswegen kitzelt mich das so! Unsere Körperlichkeit ist zum Beispiel denkbar beschissen, um im Mars überleben zu können. Verstehst du, was ich meine? Jetzt sagen aber die Transhumanisten, dass es innerhalb von 30 Jahren möglich sein wird, dein Bewusstsein in einen Computer zu transferieren. Das heißt, dass du eine ganz normale Existenz hast – ich kann mir das genau so wenig vorstellen wie du. Das, was dich als Mensch ausmacht: Die Summe deiner individuellen Handlungsweisen, also deine Erfahrungen und all die Dinge, die dich als Charakter ausmachen, werden in Form eines Computers gespeichert. In diesem Fall ist deine Körperlichkeit eine Maschine. Wenn das möglich wäre, was würde uns dann die Frage nach dem Sauerstoff noch jucken? Die Dinge würden sich massiv verlagern und die Sterblichkeit würde wegfallen. Denk über Religion und alle Philosophien nach, wenn die Körperlichkeit wegfallen würde. Das ist doch ein unglaublicher Gedanke, oder? Und das ist der Grund, warum mich das Thema so krass kitzelt.
Wie bist du darauf gestoßen?
Ich bin über Friedrich Nietzsche darauf gestoßen. Er wird häufig als Urvater der Transhumanisten genannt. Zu seiner Zeit hat er ja den Übermenschen proklamiert. Das wurde dann von den Nazis auf schändlichste Art und Weise missinterpretiert – oder vielleicht auch nicht missinterpretiert; das kann man sehen, wie man will. Man kann auch sagen: „Hey, wenn Nietzsche gewusst hätte, was er da schreibt, ist es sehr fraglich, ob er 100 Jahre später das Gleiche geschrieben hätte.“ Nietzsche hat mich auch schon immer fasziniert. Vor allem haben es mir seine Gedanke des Über-Sich-Hinauswachsens, des Übermenschendings und des ständigen Sich-Optimierens angetan. Nietzsches Gedanken in Kombination heutzutage – wie eingangs erwähnt: Goethes „Maximen und Reflexionen“ über Internetstream im fahrenden Bus voller Klimaanlagen, Soundsystem, 3D-Woover, Wlan lesen – ist meiner Meinung nach revolutionär.
Was hältst du von Nietzsches Maxime: „Trink niemals Alkohol„?
Ich trinke tatsächlich seit zwei Jahren keinen Alkohol, aber nicht wegen Nietzsche. Hat er das wirklich gesagt?
Das ist einer seiner Maximen. Ich habe letztens auf dem YouTube-Kanal von the School of Life eine Folge zu Nietzsche gesehen. Die haben eine Serie, in der sie in weniger als zehn Minuten auf den Punkt bringen, was große Denker geschrieben haben. Ihr Anspruch ist, Gedanken zu beleuchten, die gerade in der heutigen Welt relevant sind.
Uuuuh, das klingt aber gefährlich.
Ihre Webseite sieht sehr vernünftig aus.
Uuuuuh, School of Life, das klingt aber gefährlich. Na gut.
Wieso klingt das denn gefährlich?
Wenn mir jemand „Schule des Lebens“ hinschreibt und dann in zehn Minuten die Denkweisen unserer größten Denker darstellt, habe ich Angst. Das klingt wie „Leben für Dummies“.
Ich kann für meinen Teil sagen, dass die die Videos zu den Denkern, die ich kannte, fundiert waren.
(hat sein Handy in der Hand und sucht in Google „The School of Life) Ah, ich sehe es „Developing emotional intelligence — The School of Life„.
Ja, das ist es.
Alles klar, dann zieh ich mir das mal rein, danke.
In der Reihe ist auch eine Folge über Edward Hopper. Einer ihrer Kernpunkte war, dass er vor allem die Einsamkeit künstlerisch verarbeitet hat.
Ja, das ist die Atmosphäre seiner Gemälde. Diese aber entsteht dadurch, dass er die Dinge weglässt, die nicht wichtig für das Bild sind. An Edward Hopper kann man verschiedenes mögen. Mir persönlich gefällt halt dieser Purismus.
Nur ganz kurz: Bist auch ein Houellebecq-Fan wie deine Bandkollegen Maeckes, Bartek und Kaas?
Nein.
Du liest ihn nicht?
Ich mag’s nicht. Ich habe zwei Bücher gelesen. „Karte und Gebiete“ zum Beispiel hat mich nach drei Viertel des Buches zu Tode gelangweilt. Ich wüsste nicht, warum ich das lesen soll. Das turnt mich nicht.
Was turnt dich?
Mich turnt – so plakativ wie es klingt – russischsprachige Literatur. „Der Richtplatz“ von Tschingis Aitmatow ist einer meiner Lieblingsbücher. Die russische Literatur hat nämlich oft eine Bildsprache, die mir etwas gibt – dieser russische Pathos. Diesen Ostpathos kann ich auch bei mir nicht ablegen, nicht in der Musik, nicht in der Kunst.
„Seitdem“ – dein Solotrack auf dem neuen Orsons-Album „What’s Goes“ – hat ja auch diesen Pathos: Schmerz, Melancholie und Nostalgie.
(lächelt) Genau, so in der Art. Außerdem sind in der russischen Literatur großartige Sozialgleichnisse zu finden, die natürlich mit der Zeitgeschichte einher gehen. Mein Vater hängt ganz krass an solchem Zeug. Deswegen ist bei mir die russische Literatur auch mit meiner Kindheit verbunden.
Auf welcher Sprache liest du die Russen?
Ich lese sie auf Deutsch. Ich kann viel zu schlecht Russisch, Alter. Da gehe ich auch gerne ins Experimentelle. Zum Beispiel hat Maeckes mir ein Buch geschenkt: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin. Das war an ein altes Buch von Leo Tolstoi – ein Klassiker – angelehnt. Der ist dann auch noch ganz strange umgesetzt. So ganz wirklich gekickt hat mich das nicht. Gleichzeitig aber doch und deswegen war es faszinierend. Ich mag aus ästhetischen Gründen alles dort. Ansonsten wenn ich lese, dann bin ich auf der Suche nach philosophischem Kram. Und da bin ich super empfindlich. Ich hasse zum Beispiel auch Hermann Hesse. Ich hasse ihn wie die Pest, Alter.
Du musst mir sagen wieso.
Weil er mir auf den Sack geht, Alter. Meiner Meinung nach ist Hesse zu wenig Substanz in zu viel Lehrhaftigkeit. Das ist jetzt meine persönliche Meinung; viele Leute lieben ihn. Das liest sich immer wie ein wahnsinnig substanzielles ganz schwieriges Buch. Und eigentlich ist da gar nicht so viel dahinter. Ein Neuzeit-Hesse ist für mich Paulo Coelho und deswegen mag ich ihn auch nicht. Ich kann den nicht lesen. Der macht mich irre. Das ist so richtig Philosophie light. Hesse und Coelho sind mir halt zu kitschig. Das ist mir bisschen zu doof. Jetzt kling ich wie so ein ekliger scheiß Elite-Wichser.
Es ist scheißegal, ob es elitär klingt oder nicht, denn wie du so klug auf „Trends“, einem Lied auf dem neuen Orsons-Album rappst: „Und ihr sagt, über Geschmack lässt sich nicht streiten / doch das Leben ist Geschmack, denn etwas machen, heißt entscheiden.“
Dieser Satz ist im Übrigen nicht allein auf meinem Mist gewachsen. Ich glaube, dass ich das mal bei einem der alten Griechen gelesen habe.
Welche Philosophen haben es dir angetan?
Ich habe über die alten Griechen bis hin zu den deutschen Philosophen alles gelesen. Ich kann jetzt aber nicht sagen, dass es mir eine bestimmte Person krass angetan hätte. Ich habe also auch keine philosophische Richtung, die ich absolut geil finde. Dafür finde ich die Dinge viel zu divers. Was ich für mich selbst gelernt habe: Die Philosophie ist ebenso wenig wie Religion etwas, was zum Ziel führt. Und es ist auch die Frage, ob überhaupt irgendetwas zum Ziel führt oder führen soll. Es macht mir aber Spaß, mich abends damit zu kitzeln. Philosophie ist ja so divers und ohne Konsens. Das heißt: Wo man auch hingeht, man wird immer wieder etwas finden, was einen anderen Philosophen disst – blöd gesagt. Ich glaube, dass, wenn man alles gelesen hätte, sich mit allen Philosophen auskennen würde, wäre man ganz genau da, wo man angefangen hat.
Außerdem kann man sich eh nicht alles merken.
Trotzdem macht es mir Spaß mich mit der Philosophie auseinanderzusetzen. Nietzsche gefällt mir insofern, als ich ihn sprachlich richtig geil finde. Das lese ich einfach gerne, auch wenn es manchmal faschistisch ist. Manchmal klingt es viel zu krass Nazi-mäßig.
Nietzsche war doch auch einer der Philosophen, die ganz rational argumentiert haben, dass es vernünftig sein kann, einen Menschen zu töten, oder?
Das kann sein. Ich weiß das nicht. Hat er das gesagt? Es klingt auf jeden Fall nach ihm.
Ich hab das in der „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aufgeschnappt. Die schreiben das in einem Kapitel und beziehen sich auf Nietzsche.
Adorno zum Beispiel ist so nervig zu lesen.
Ja, der schreibt wirklich scheiße – also stilistisch.
Das kann man sich nicht geben. Horkheimer und Adorno waren solche anstrengenden Bumsgesichter. Die hatten mit allem Recht und die hatten richtig coole Popansätze. Was sie über die Kulturindustrie geschrieben haben, ist ja bis heute aktuell. Das ist aber so anstrengend zu lesen, Alter. Adorno und Horkheimer sind mir zu anstrengend zu lesen, auch wenn die Gedankengänge der Zwei genial sind.
Das Buch hat 288 Seiten und ich habe mehr als einen Monat dafür gebraucht.
Man muss jeden Satz fünf mal lesen.
Und auch nach dem fünften Mal hat man es nicht verstanden. Also den Grundgedanken checkt man schon,
(vervollständigt den Satz) aber es strengt an. Vor allem im Gegensatz dazu ist Nietzsche – auch wenn ich das nicht immer unterschreibe, was er sagt – sprachlich überkrass. „Also sprach Zarathustra“ gibt es gelesen auf YouTube. Das kann ich nur empfehlen. Das ist übergeil, wie dieses alte Deutsch gelesen – mit einer alten kratzigen Stimmte – klingt. Da gab es irgendein Zitat, das es mir sehr angetan hat, aber ich komme nicht mehr drauf. Nietzsche ist sprachgewaltig. Man merkt, dass ganz viel Propaganda des faschistischen Jahrhunderts, das nach ihm kam, von ihm inspiriert ist – auch von allen Seiten: Nazis, Sowjets und so weiter. Diese Polemik von Nietzsche ist aus der Philosophie direkt in die Politik übertragen worden.
Hat die Begeisterung für die Philosophie einen Einfluss auf deine Musik?
Ja, klar. Ich quatsche ja immer davon, dass ich Substanzielles mag. Ich versuche schon – vielleicht nicht bei jedem Orsonslied, aber wenn ich solo Mucke mache – mir erst darüber im Klaren zu sein, was mein philosophischer oder ästhetischer Grundgedanke ist. Ziemlich on point ist das letztlich auf „Stevia„. Bevor alle Songs da waren, wusste ich, was ich machen wollte.
Bist du dann auch einer dieser Menschen, die immer nachdenken?
Ja, entweder quatsche ich oder ich denke. Was ich in Sachen Literatur auch geil finde – um von dem allzu Philosophischen wegzukommen und den Bogen zu schlagen zur Musik: Ernest Hemingway und Charles Bukowski.
Von Charles Bukowski lese ich derzeit „Ham on Rye“. Ich muss aber sagen, dass mich an Bukowski die Berechenbarkeit seiner Handlung etwas stört: Saufen, Schlägerei, Sex.
(fügt hinzu) Und Glücksspiel. Ja, Bukowski hat halt wahnsinnig viel Songwriting in sich. Das ging auch so weit, dass er sein Texte performt hat. Er ist zum Beispiel zu Lesungen gegangen – dazu gibt es legendäre Videos aus Hamburg, in den 60ern war das –, war strunzebesoffen, oder hat vorgegeben es zu sein – wahrscheinlich war er es – und das ist der Moment, an dem der Schriftsteller seine klassische Comfort Zone verlassen hat und zum Popstar wurde. Das war bei Hemingway so, der auch durch seinen exzentrischen Lifestyle aufgefallen ist. Außerdem war er Jäger und viel im Dschungel. Ganz viele seiner Bücher hat er wie zur Selbstbeweihräucherung geschrieben. Er hat ein komisches Macho-Image verkörpert. Ich finde das aber spannend, denn Rap ist nichts anderes. Man macht ja ganz viele Songs, um die eigene Person zu vermarkten. Verstehst du, was ich meine? Das ist ja Pop. Da wird es eben spannend, denn da wurde die klassische Literatur verlassen. Hemingway und Bukowski waren bis zu einem gewissen Grad Popstars. Die haben keine Mucke gemacht, sondern Literatur. Sie waren also Literaturpopstars. Die haben sich selbst inszeniert. Bukowski noch mehr als Hemingway: Immer besoffen auf Lesungen und dann dort irgendwelche Schlägereien angefangen, eine Skandalnudel halt. Und dadurch wurde seine Säuferliteratur viel glaubwürdiger. Man hat ihm ja angesehen, dass er ein Säufer ist. Post mortem wurde dann klar, dass er längst nicht so viel getrunken hat wie man dachte.
Liest du Bukowski auf Englisch oder auf Deutsch?
Ich habe es auf Englisch gelesen. Ich habe so ein Best of Charles Bukowski Buch gelesen. Mein Lieblingsgedicht von Charles Bukowski ist „My Uncle Jack„. Ich glaube auch, dass ich irgendwann mal einen Song daraus machen will. Das ist einfach Sprachgewalt in purer, purer Form.
Willst du auch ein Lied zu etwas von Hemingway machen?
Nein, aber Hemingway hat meiner Meinung wiederum geniale Sachen für Songwriter gesagt. Zum Beispiel hat er eine Sache gesagt, die ich essentiell finde und jedem Menschen, der Songs schreibt ans Herz legen möchte – mir selbst inklusive: Ein Eisberg gleitet nur deswegen so elegant übers Wasser, weil man nur ein Achtel vom Eisberg sieht. Das ist der entscheidende Punkt: Er sagt, wenn du als Verfasser weißt, worüber du redest, dann spare alles aus, was du nicht brauchst. Was du automatisch weißt, das schreib auch nicht auf. Demjenigen, der das liest oder hört, wird klar werden, dass du weißt, worüber du schreibst und er spürt die Authentizität des Ganzen. Weißt du was ich meine? Also der komplette Gegenwurf zu Rosamunde Pilcher, bei der alles viel zu krass mit Attributen ausgelegt und gefüllt ist und man gar nichts mehr glaubt, weil es zu kitschig ist. Hemingway lässt die ganzen Dinge weg und sagt: „Ich lese es mir durch, streiche es noch mal und noch mal weg. Das tue ich solange, bis die Essenz des Ganzen übrig bleibt.“ Erst dann entsteht Substanz, Atmosphäre.
Das hört sich gut an.
Das hat auch Hopper gemacht. Und da macht es Klick bei mir. Ich finde das geil. Das was ich gerade beschrieben habe, habe ich auch auf „Stevia“ versucht. Auf „Stevia“ ist es mir auch nicht immer geglückt. Außerdem habe ich experimentiert. Und wer bin ich, dass ich an die Qualität eines Bukowskis oder Hemingways hinkäme? Ich eifere dem aber nach.
Leben ist Entwicklung.
So sieht’s aus.
Bei der Sache mit dem Eisberg finde ich einen weiteren Aspekt interessant: Wenn ich mir jetzt dir zum Beispiel vorstelle – du selbst bist überbeschäftigt –, dann wirst du dir fast gar nichts von dem merken, was ich sage. Was du dir merken würdest, ist halt diese Spitze: „Ah okay, er sieht so aus, und heißt so und das war’s„.
Ich kenne dich doch, Alter.
Ja, woher kennst du mich?
Du heißt Adem, ne? Ferizaj (sogar richtig ausgesprochen)? Ich weiß nicht mehr, woher ich dich kenne, aber ich habe dich schon 1000 Mal gesehen. Du hast doch einen Bruder, ne? Woher kennen wir uns eigentlich?
In München haben wir uns kennengelernt. Du hattest einen Auftritt im Feierwerk.
Ah genau, wir haben mal zusammen gechillt. Und jetzt hast du dir Journalismus irgendwie klar gemacht?
(lacht) Muss man als Rapper lesen?
Das ist eine interessante Frage. Ich habe mich damals beim All Good-Interview etwas polemisch ausgedrückt: „Ihr lest nie ein Buch. Ihr könnt gar nichts und so weiter.“ Ich kann nicht nachvollziehen wie gerade Rapper, deren Kernkompetenz die Sprache und das Reimen ist, sich sehr oft nicht mit dem Beschäftigen, wo die ganze Kunstform herkommt oder verwurzelt ist – in der Literatur. Wie kommt man denn daran vorbei? Das ist doch vollkommen verrückt.
Ja, das ist ein guter Gedanke.
Natürlich gehört auch das Ungehobelte, das Ungeschliffene, das Straßenmäßige unbedingt zum Rap dazu. Das ist ein Teil der Identität. In dem Moment aber, in dem es sich mit Wissen und Verständnis, von dem was man tut, paart, entsteht meiner Meinung nach Qualität. Es heißt nicht, dass jeder Straßenrapper sich wie ein schlechter Philosoph ausdrücken muss. Meiner Meinung nach muss man die Dinge wissen, um sie weglassen zu können. Es gibt auch einen anderen Weg. Es gibt den Zufall, dass die Dinge sich irgendwie fügen und es so wie es zufällig kam, geil ist. Was es aber wesentlich öfters gibt ist Weakness. Und dann gibt es hin und wieder auch mal einen Typen, der einen gewissen Background hat – ich nicht. Irgendwelche Leute, die wirklich krasse Streettypen sind, aber einen Intellekt mitbringen, um Kunst zu verstehen – Tupac zum Beispiel. Wenn es so was gibt, bin ich voll an Bord und freue mich mega.
Ich finde, dass es mittlerweile in Deutschland Straßenrapper gibt, die vielleicht nicht dieses Intellekt mitbringen, aber die Intuition haben. Ich weiß, dass es ein wenig ausgelutscht ist, aber Haftbefehl ist so ein Beispiel. Er macht so viel Krasses, aber begreift gar nicht die Tiefe seiner Geniestreiche. Seine Namensgebung ist das beste Beispiel.
Das weiß ich nicht, Alter. Ich glaube, Hafti ist nicht doof. Ich kenne ihn nicht gut genug. Ich schätze ihn als einen intelligenten Menschen ein.
Kennst du ihn persönlich?
Ich kenne ihn ein bisschen. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, aber kennen wäre viel zu viel des Guten.
Weißt du, wieso er sich Haftbefehl genannt hat?
Nein.
Dazu gibt es halt eine krasse Interpretation, die meinen Standpunkt veranschaulicht – wenn er es echt mit dieser Motivation gemacht hat, ist er ein Genie: Es gab einen Soziologen, Michel Foucault, der davon genervt war, dass seine Mitmenschen, den Rechtsstaat so krass verinnerlicht haben, dass sie unterbewusst zu Staatsbewachern werden. Wenn du zum Beispiel am Straßenrand pissen willst, machst du es nicht, weil jemand dich sehen könnte und der die Polizei alarmieren könnte. Haftbefehl hat ja die Vergangenheit, dass auf ihn Haftbefehl erlassen wurde. Und trotzdem hat er sich Haftbefehl genannt. Er hat also, diesen negativen Staatsbegriff genommen und seine Bedeutung umgestülpt.
Ich kann dir komplett folgen, aber ich glaube nicht, dass er das so gemeint hat. Die Frage ist aber, ob das nötig ist, dass er soweit gedacht hat. Das ist ein interessanter Moment, der da entsteht. Das ist der Moment, in dem Qualität entsteht und man sich fragt: „Wer macht die Qualität? Das Kunstwerk, das Qualität vermittelt, oder erzeugt der Betrachter die Qualität, weil er etwas interpretiert?“ Das ist die grundsätzliche Frage der Kunst.
Krass, so habe ich das noch nie gesehen.
Ich kann für mich sagen: Wenn ich etwas sehe, höre oder lese, dass mir irgendetwas gibt – sagen wir mal ein Musikvideo eines Rappers. Dann ist der nächste Move, nach visuellen Eindrücken des Künstlers zu gucken. Wie sieht der Typ aus? Also die Authentizität zu prüfen. Ist er das, was er sagt, oder ist er noch interessanter? Und das ist im Grunde genommen der Versuch etwas zu interpretieren. Wenn mich etwas flasht, dann lasse ich es nicht einfach so stehen, sondern ich muss mehr darüber wissen. Ich glaube, dass es fast allen so geht.
Deine Botschaft an die Leser des Interviews:
Meine Botschaft ist, scheißt auf Maeckes, lest Bücher. Nein, das ist nicht meine Botschaft. Meine Botschaft ist: Soll doch jeder machen, was er will.