Kendrick Lamar – Section 80

N.W.A. machten in den späten Achtzigern mit ihrem Klassiker „Straight Outta Compton“ den Namen ihres Viertels weltberühmt und prägten wie kaum eine andere Crew das Genre des Gangsta-Raps. Nachdem es lange Jahre etwas ruhiger um Rap aus Compton geworden war, brachte Game den Namen wieder zurück ins Spiel, wobei er sich ganz klar in die Tradition der Gründerväter stellte und vom großen Dr. Dre gefördert wurde.

Auch der 23-jährige Kendrick Lamar, schon seit etwa 2005 aktiv, kann sich der Unterstützung Dres sicher sein. In Interviews lobt ihn der Doctor in höchsten Tönen und auch auf einigen Detox-Leaks war Kendrick zu hören. Doch weder was sein Auftreten, sein Erscheinungsbild,  seine Textinhalte, noch seinen Rapstil angeht, will er ins Bild eines Rappers aus Compton passen. Hier ist ein fast schüchtern wirkender, recht zierlicher, dabei lyrisch und flowtechnisch schwergewichtiger MC am Werk, der mit keinem geringeren Ziel angetreten ist, als seine ganze Generation zu inspirieren. Allerdings auf eine etwas andere Art als damals N.W.A., denen zweifelsohne große Verdienste in musikalischer Hinsicht gebühren, deren Musik aber sicherlich auch den ein oder anderen Drive-By begleitet haben dürfte. In welche Richtung sich die Energien und Aggressionen der Jugend seiner Meinung nach lieber richten sollten, schilderte er in der  schon Anfang des Jahres veröffentlichten Meister-Single „HiiiPower“: „Let’s set it off, cause a riot, throw off molotovs/ Somebody told me them pirates ain’t got lost/ Cause we’ve been off slave ships/ Got our own pyramids, write our own hieroglyphs“

Nach einigen Mixtapes, EP’s und vielen Features nun sein erstes großes Solo-Album „Section 80“, wobei sich der Titel auf das soziale Wohnungs-Programm Section 8 und eben seine Generation der in den Achtzigern Geborenen bezieht.
Kendricks leicht nasale Stimme mag einem auf den ersten Eindruck vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig vorkommen, aber bereits der Opener „Fuck Your Ethnicity“ verdeutlicht, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen Künstler zu tun hat. Form und Inhalt ergänzen sich auf eine gänzlich unverkrampfte Art und Weise.  Besonders der gleichzeitige Wechsel von Flow und Stimmlage zur Mitte des ersten Strophe ist absolut magisch und animiert zum sofortigen Rewind.

Später rappt er: „TMI, TSA, man i’m fly/ put wings on my back/ that a plane or angel?/ both, like a pilot with a halo“  – ganz klar, der Junge will hoch hinaus. Allerdings hat er dabei den Anspruch, es aus eigener Kraft zu schaffen, und seine Zeilen im mächtigen „Spiteful Chant“ unterstreichen dies noch mal: „Everybody heard that I fuck with Dre/ And they wanna tell me, I made it/ Nigga I ain’t made shit/ If he gave me a handout I’m a take his wrist and break it“
Kein einziger großer Name ist auf „Section 80“ zu finden, wo ihm doch diesbezüglich alle Türen offenstünden. Features und Produktionen kommen hauptsächlich aus seinem Umfeld, wobei manche Instrumentals für sich genommen recht unspektakulär klingen mögen, doch Kendrick setzt seine Stimme oft wie ein Instrument ein, und man hat das Gefühl, dass er sich auf den Beats einfach zu Hause fühlt.  Besonders Sounwave liefert herausragende Arbeit ab und glänzt in  Hol’ Up“, einem unverschämt entspannten Song,  mit exquisiten Drums und wunderbaren Bläser-Arrangements. Kendrick äußert hier unter anderem genau den Gedanken, der mir schon nach „Fuck Your Ethnicity“ in den Sinn kam: Trotz seiner erst 23 Jahre hat man das Gefühl, einer weisen Stimme zuzuhören: „I live my twenties at two years old, the wiser man/ Truth be told, I’m like eighty-seven/ Wicked as eighty reverends in a pool of fire wit’ devils holdin’ hands/ From the distance, don’t know which one is a Christian, damn!“
Kurz zuvor siniierte er dabei noch, dass man ihn sicherlich für einen Terroristen halten würde,  wenn er mit der mit ihm flirtenden Stewardess  vor den Augen der Passagiere Sex hätte.  Wer jetzt findet, dass solcherlei Aussagen eigentlich nicht zusammenpassen, dem entgegnet er später: „See a lot of y’all don’t understand Kendrick Lamar/ Because you wonder how I could talk about money, hoes, clothes, God, and history all in the same sentence“

Kendrick ist trotz seiner offensichtlichen Bildung und Sprachgewandtweit immer noch ein Kind der Straße. Eines, das flucht, wenn ihm danach ist, eine Bitch eine Bitch nennt und auch nichts gegen eine ordentliche Portion Kush einzuwenden hat. Denn er ist weder „…the next Pop-Star„, noch „… the next socially aware rapper“, er ist einfach „…a human motherfuckin’ beeing“.
Ein Mensch mit guten und schlechten Seiten, der sich nun mal in keine Schublade stecken lässt. Man weiß nie was K-Dot, so sein früherer Name, als nächstes vorhat. Mal entführt er einen in die frühen 90er („Rigamortis“),  gedenkt Aaliyah, Pimp C und Left Eye („Blow My High“), oder liefert eine Spoken-Word-Performance auf einem puren Free-Jazz-Track ab („Ab-Soul’s Outro“). Im zentralen, alles überragenden „Ronald Reagan Era“, zeichnet er Bilder aus der Hochzeit  der Crack-Pest und der Gangkriege: „1987, the children of Ronald Reagan raped the leaves off your front porch with a machine blow torch.“
Dann erzählt er die Geschichte einer Frau, die sich aufgrund von immerwährenden Beziehungs-Enttäuschungen dazu entschließt, es mal mit dem gleichen Geschlecht auszuprobieren („Tammy’s Song“), thematisiert zügellosen Drogenkonsum („A.D.H.D.“), kritisiert das zwanghafte zukleistern mit Schminke („No Make-Up“), oder schildert das traurige Schicksal einer Prostituierten („Keisha’s Song“): „She givin’ all to her daddy but she don’t know her father, that’s ironic […]She play Mr. Shakur, that’s her favorite rapper/ Bumping „Brenda’s Got A Baby“ while a pervert yelling at her.“

Der Geist 2Pac’s höchstpersönlich war es anscheinend auch, der ihm eines Nachts im Schlaf erschien und  ihn bat: „Don’t let me die!“ Auch wenn erstmal kaum Gemeinsamkeiten in ihren Stilen erkennbar sind, so trägt er auf jeden Fall einen Teil seines revolutionären Geistes weiter.

Wie sehr es der HipHop-Welt doch nach wie vor nach reiner, unverfälschter Kunst dürstet, lässt sich an den überschwenglichen Reaktionen seitens der  Fans und der Presse erahnen. Ein Satz, der dabei immer wieder auftaucht: „Kendrick Lamar is the future!“ …. Captain Future!