Sin Nombre

Wenn man von Filmen mit Gang-Thematik hört, denkt man meist zuerst an pathetische Streifen, die den bedingungslosen Zusammenhalt bis in den Tod euphorisch umreißen. Zwar bewegen sich die Akteure oft im Bereich des Illegalen, dargestellt wird das Ganze aber mehr wie eine Art besonders enger Freundeskreis, ordentlich durchmengt mit Ehre, Stolz und Loyalität. Hollywood labt sich an dem Hauch des Verruchten, ist aber oftmals nicht bereit, die Maxime des „unbedingten Zusammenhalts“ konsequent weiterzudenken. „Sin Nombre“ geht diesen Schritt.Casper ist Mitglied der Mara Salvatrucha, die als eine der gefährlichsten Gangs der Welt gilt. Mit geschätzten 50.000 bis 100.000 Mitgliedern, hauptsächlich in Südamerika, gehört sie sicherlich auch zu einer der größten.
Gegründet wurde die MS-13 in Los Angeles und besteht mittlerweile aus mehreren, lose miteinander verbundenen Gruppen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent. Wie für viele andere seines Alters, ist die Gang Caspers Familie und steht an erster Stelle. Selbst seine Freundin muss dahinter zurück stehen. Kein Wunder also, dass auch Caspers junger Freund der Gang beitreten möchte, zuvor muss er allerdings das Aufnahmeritual durchstehen. Dreizehn qualvolle Sekunden lang wird von seinen zukünftigen „Brüdern“ auf ihn eingetreten, vor den Angriffen schützen darf er dabei lediglich seine Genitalien und sein Gesicht. Dreizehn Sekunden, die auch dem Zuschauer wie eine Ewigkeit erscheinen, denn die Kamera verfolgt gnadenlos das Martyrium des Jungen, der nach Ablauf der Zeit sein blutüberströmtes Gesicht zu seinem stolzen Grinsen verzieht.

Ab diesem Moment ist Smiley, wie er nur noch genannt wird, Teil der Gang, bekommt eine Waffe und soll mithilfe seines älteren Freundes seinen ersten Mord begehen. Der jedoch gerät zusehends in einen Gewissenskonflikt, als auch noch seine Freundin vom Anführer der Gruppe, El Mago, bei einer Auseinandersetzung versehentlich getötet wird.

Sayra kommt aus einem weniger gewalttätigen Umfeld, ihre Heimat verlassen möchte sie trotzdem. Sie hat Verwandte in den Vereinigten Staaten und fährt somit inmitten anderer Flüchtlinge auf dem Dach eines Güterzugs in Richtung Landesgrenze mit. Plötzlich wird der Zug jedoch von Casper und anderen Mitgliedern der Mara überfallen und die Situation eskaliert. Als eins der Gangmitglieder jedoch versucht, Sayra zu vergewaltigen, greift Casper ein. Ab diesem Moment ist er vogelfrei und ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich ebenfalls Richtung USA abzusetzen – mit er ständigen Angst, von seinen ehemaligen Gang-Kollegen gefasst und getötet zu werden.

Auf dem Dach eines Zuges, inmitten anderer Flüchtlinge, freunden sich das junge Mädchen und ihr Retter zaghaft an und schnell wird klar, dass zwischen den beiden eine besondere Verbindung besteht. In unaufgeregten aber schönen Bildern und mit wenigen Worten zeichnet der Regisseur Cary Joji Fukunaga das Gemälde einer Reise, die nicht nur auf eine neue Zukunft in einem anderen Land, sondern auch eine neue Liebe hoffen lässt. Den Grundrahmen hierfür bildet der Zug, der nur bei Polizeikontrollen fluchtartig verlassen wird, die Kulisse besteht aus dem ständig wechselnden Hintergrund der Umgebung. Authentisch wirken die Charaktere mit all ihren Ängsten zu jeder Zeit. Das mag wohl vor allem daran liegen, dass der Regisseur sich bei der Recherche-Arbeit zum Film selbst für einige Zeit unter mexikanische Flüchtlinge mischte – auf eben so einem Zugdach. Und so scheint in jedem einzelnen Bild das Gefühlschaos mitzuschwingen, was Fukunaga bei seiner Reise am eigenen Leib miterlebt hat: Hoffnung, Anspannung, Erschöpfung, Freude, aber auch die permanente Angst, erwischt zu werden.

Aufgebrochen wird dieser Strang der Geschichte, als Casper den Zug verlassen muss, um seinen Jägern zu entgehen. Sayra folgt ihm und die Beiden sind von dieser Minute an auf sich allein gestellt.
Auch wenn die Handlung daraufhin zunehmend an Fahrt gewinnt, schlägt sie nicht in eine irre Verfolgungsjagd a la Hollywood Blockbuster um und genau das macht auch die Stärke von Sin Nombre“ aus. Die stete Unsicherheit, das Auf und Ab der Gefühle, dem die Charaktere unterworfen sind, wird eins zu eins auf die  Erzählung der Geschichte übertragen. Das lässt den Zuschauer visuell das erleben, was die Figuren psychisch durchmachen, zieht ihn so in die Story hinein und dementsprechend bleibt einem der Streifen auch nach seinem Ende noch geraume Zeit im Kopf.

Ein harter Film, der trotzdem nie zu plakativ oder sensationsheischend wird. Absolut empfehlenswert und zu Recht im vergangenen Jahr beim Sundance Filmfestival mehrfach ausgezeichnet worden.