sido – Aggro Berlin

Mit dem Intro anzufangen ist eine sehr billige Art und Weise, einen Einstieg in eine Review zu finden, beim vorliegenden Album ist das aber zwingend notwendig. sido sperrt sein Künstler-Ich aus Aggro Berlin Zeiten, in Form seiner Maske in den Schrank und zeigt sich erstmalig als vollkommen von seinem ehemaligen Label gelöster Musiker. Zwar erscheint im Rückblick alles immer ein bisschen schöner und einfacher, als es tatsächlich war, trotzdem lässt sich in der Retrospektive mit Sicherheit einiges unbefangener betrachten. Und das hat sido auf "Aggro Berlin“ definitiv geschafft. Ein Album, das mit der Vergangenheit abrechnet, dabei allerdings die schönen Seiten nicht außen vor lässt. Ein Werk, das in seiner betonten Ehrlichkeit manchmal aber auch konstruiert wirkt.

Wenn man nämlich in einem Jahr, in dem der Mauerfall 20-jähriges Jubiläum feiert, urplötzlich mit der eigenen Ostberliner Abstammung um die Ecke kommt, dann darf durchaus nachgefragt werden, wie viel Berechnung dahinter steckt. Nichtsdestotrotz ist "Hey Du!“ insbesondere aufgrund der wahnsinnig eingängigen und auch nach mehrmaligem Hören, nicht nervigen Hook aus dem "Linie 1“ Musical ein wahnsinnig guter Pop-Song. Und das ist es auch, was sido nun, bei seinem vierten Album, geworden ist: Ein Popstar.
sido lebt jetzt "in einer anderen Welt“  ("Wenn Das Alles Ist“). Zumindest ist es nicht mehr die Welt der ehemaligen Weggefährten und das weiß er auch gut und nachfühlbar zu beschreiben – wo manch anderer sich entweder in zutiefst verklärter Schwülstigkeit oder melodramatischen Unterschichts-Szenarien verlieren würde, findet der Berliner klare und einfache Worte.
Diese Fähigkeit ist meiner Meinung nach sowieso eine der größten Stärken von sido: Sich selbst richtig einschätzen zu können und das Beste daraus zu machen. Wozu spektakuläre Doubletime-Passagen oder ausgefeilte, noch nie da gewesene Vergleiche und Wortspiele? Der Künstler sagt, was er denkt und das tut er so, dass es nicht nur Peter vom Gymnasium, sondern auch Kevin von der Sonderschule versteht.

Dabei bewegt sich der ehemalige Aggroberliner, wie schon angedeutet, zunehmend in poppigen Gefilden. Überraschend ist das allerdings nicht. Schon früher, als der Mann noch seine Maske trug, zeigte er genug Entertainment-Potential für die großen Bühnen und roten Teppiche dieser Welt, ohne dabei zu berauscht von sich selbst oder dem eigenen Tun zu sein.
Dementsprechend ist es nur konsequent, dass mit "Marie & Jana“, als Fortsetzung zu "Sarah“ und "Carmen“, auch ein Reggaetrack der ekelhaftesten Kategorie auf dem Album vertreten ist, und auf "Schlampen Von Gestern“ unliebsame Exfreundinnen im schnulzig vorgetragenen Gesang (!) des Rappers ertränkt werden. Dessen aktuelle Lebensabschnittspartnerin Doreen darf dann auch noch mal was sagen und eigentlich könnte das Ganze richtig witzig sein. Ist es aber leider nicht, irgendwie klingt das alles zu gewollt.

"Sie Bleibt“ geht thematisch in eine ähnliche Richtung, nur dass die Frau, mit der man sein Leben nicht länger teilen möchte, noch präsent ist und nicht zum Gehen bewegt werden kann – egal wie unmöglich sich der männliche Part verhält. sido läuft zu absoluter Hochform auf und macht den Track mit Zeilen wie "Ich mach’ nen Knutschfleck an den Hals mit meinem Staubsauber“ und "Ab sofort komm ich schon, da war ich kaum drinne und mein bester Freund ruft bei uns an mit ner Frauenstimme“ zu einem der unterhaltsamsten Songs auf "Aggro Berlin“.
Nachdenklichere Töne werden hingegen auf dem eindringlichen "Sicher?“ (für den wunderbar eingängigen Beat an dieser Stelle Props an M3 & Noyd) und dem "Was wäre wenn, ist mir eigentlich scheißegal, weil sowieso alles so kommen musste“-Song "Ich Bereue Nichts“ eingeschlagen. Zumindest dem Featurepartner G-Hot nimmt man aber nicht ab, dass es nicht die ein oder andere Sache in der Vergangenheit gibt, die er bereut. An dieser Stelle werfe ich einfach mal das Wort "Homosexualität“ in den Raum.

Ein weitaus homogeneres musikalisches Paar geben unsere Lieblingsrapper im Track "Siggy&Harry“ ab. Zwar kann bei den Rap-Parts getrost weggehört werden, der Beat hingegen zeigt einmal mehr, dass auch deutscher HipHop tanzbar sein kann. Applaus hierfür an die Beatgees. Wer dann noch wissen will, wie man sich zu Deutschrap im Club verhält, ist mit dem K.I.Z.-Feature "Der Tanz“ vollstens bedient. Trotzdem muss ich beide Songs nicht mehr als einmal hören. Das ist alles ordentlich und stellenweise auch wirklich lustig, aber der Funke will nicht so richtig überspringen.

Bedauerlicherweise verhält es sich bei dem gesamten Album so. sido tritt als gereifter Künstler auf, der gute Songideen solide umsetzt. Die Produktionen von den bereits angesprochen Beatbastlern sowie Paul NZA, Beatzarre, Djorkaeff und DJ Desue geben dem Hörer genau das, was er sich von diesen Namen erwartet und im Allgemeinen befindet sich auf "Aggro Berlin“ kein musikalischer Totalausfall.
Trotzdem wirkt die Platte in ihrer Gesamtheit geradezu bieder. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Hidden Track, der einen Remix der Samy-Kollabo "Seniorenstatus“ darstellt, bei der die jungen und hungrigen Nachwuchs-MCees Greckoe, Laas Unltd. und Liquit Walker die Rap-Rentner nach Lust und Laune dissen dürfen. Von der Idee her super, unverständlicherweise wirken die vermeintlich bissigen Jungspunde streckenweise aber geradezu zahnlos.

Ich würde mir sido wieder etwas dreckiger wünschen. Weniger glatt. Weniger Mittelscheitel. Kontroverser, noch direkter. Vielleicht auch so direkt, dass es ab und an mal weh tut. Das ist dann zwar weniger Pop und gefällt nicht jedem, macht das Produkt als solches aber eigenständiger. So kann ich zwar problemlos sagen, dass es sich hier um ein sehr gutes Stück Musik handelt, nachhaltig beeindrucken tut es mich aber nicht.
"Du brauchst mich Alter!“, brüllt im Intro, der von seinem Erfinder in den Schrank gesperrte Maskenmann. Vielleicht hat er Recht damit.