Massiv – Meine Zeit

Eine Sache mal vorweg: Dieses Album ist vielleicht wirklich die Überraschung des Jahres, auch wenn 09 tatsächlich noch nicht sonderlich alt ist. Um es gleich zu Beginn zu sagen: Wasiem Taha hat sich entwickelt und aus dem bislang verhöhnten Plastikrapper Massiv ist ein veritabler MC geworden. Flow, Technik, Timing, alles stimmt und auch die lyrischen Skills sind auf dem Vormarsch. 
Um aber auch gleich noch eine kleine Spitze hinterher zu schieben: Das ist ja auch das Mindeste, was man von einem Major Rap Act erwarten kann. Zumindest nachdem, was vom Musikgiganten Sony anscheinend an Geld ausgegeben wurde. Eine Summe, die ja gerne und oft in den Medien auftauchte, und für die man eine anständige Arbeit erwarten kann.

Aber dieses Album kann in der Tat mehr. Massiv überrascht auf weiten Teilen  und da bilden die erarbeiteten Rapperfähigkeiten nur das Fundament.

Zuallererst wäre an der Spitze der Überraschungsmomente Humor und Selbstironie zu nennen. Eigenschaften, die man so nicht erleben durfte auf den letzten Alben, die sich sich aber schon bei der Vorabsingle "Hollyhood" mit der Zeile: "Hey ich bin der Arschtreter – Punkt 12 berichtet, vom Araber mit Sprachfehler" angedeutet haben. Letztlich in einem Song  verdichtet wurde das Ganze bei "Das gewisse Etwas“ wo es heißt:

–   "Ich war arbeitslos – inzwischen bin ich Rapstar, weißt du warum – ich hab das gewisse Etwas"
oder
–  "Über mich gibt es tausende Geschichten – wenn da nichts dran wär, dann würden sie auch nicht berichten"
oder
– "Für euch bin ich ein Terrorist, hab Blut an meinen Händen kleben- auf einmal ist es cool mit einem Pfälzer Dialekt zu reden"
oder
– "Von den Großeltern bis zu ganz kleinen Kids – gebt es zu, dass es ohne mich langweilig ist"

Und damit hat er auf jeden Fall recht.

Überraschung Nummer 2. Das politische Lied ist back. "Es zählt jede Sekunde“ ist eine Kollabo mit CJ Taylor von Rapsoul und bei jedem anderen hätte ich wahrscheinlich kotzen müssen, aber hier stelle ich mir vor, wie sich der ehemalige, bodybuildende Gabelstaplerfahrer mit seinen  120 Kilo hinsetzt und mit seinen schweren Händen über das Papier streift und sich Gedanken über die ganz großen Probleme macht. Und ich muss sagen dieser Gedanke gefällt mir, weil man ihn erstens so nicht erwartet, weil es also überraschend kommt und zweitens, weil die Gedanken, die da geäußert werden, in ihrer Einfachheit absolut nicht doof sind: "Ganze Eisflächen schmelzen einfach so vor sich hin – Ganze Arten sterben aus, sie wissen nicht mehr wohin."
oder
"Wie viel Blut muss dort noch fließen, sind wir stur oder blind – Eure Spendengelder fließen, doch ich frag mich wohin?
Da habe ich schon wesentlich schlechtere und peinlichere Betroffenheitssongs gehört, von vermeintlich besseren und intellektuelleren Rappern und dafür feier ich das.

Etwas abrutschen tut das Ganze allerdings, wenn eine ganz ähnliche, jedoch scheinbar konkretere Weltschmerzthematik im Song "Weil wir der Wahrheit nicht ins Auge sehen“ feat. Beirut noch mal aufgearbeitet wird und dort die üblichen Stannisätze wie "Ich sehe Menschen, die das Gute in dir gar nicht sehn – Ich seh die Jugend, wie sie mit den Drogen untergeht“ und Abgedroschenes wie "Ich sehe Mädchen, die am Straßenrand die Stunden zählen – Die für 20 Euro splitternackt im Auto Runden drehen“, ausgepackt werden. Da trieft es dann wieder vor Herzschmerz und da ist er dann wieder der Pathos, mit den gefalteten Händen vor der Brust und den Blick schmerzerfüllt in den Himmel gerichtet. Oh mein Gott. Das haben wir jetzt echt oft genug gesehen. Bitte erlöse uns von diesem Anblick und schenke dieser Trauer neue Bilder.

Dieser Pathos durchzieht aber auch noch weite, andere Teile des Albums "Meine Zeit“. Allen voran und eingeschlossen den Titelsong und natürlich auch die nun aktuellste Single "Einer aus dem Volk“. Hier stilisiert sich Massiv zu einer Art Messias, der eben aus dem Volk kommt, um wahlweise die Menschheit zu erretten oder einfach nur "aus dem Nichts zum Erfolg kommt“. Wahrscheinlich ist dann doch eher Zweiteres, was aber gleichzeitig wiederum zu Ersterem führt, da diese Geschichte "Vom Tellerwäscher zum Millionär“ oder "Vom Arbeitslosen zum Rapstar“ ganz in das "Kopf Hoch“ und "Aufbau Vermächtnis“ von Massiv an die Jugend passt. Da heißt die Botschaft ganz einfach: "Nimm meine Hand – Du kannst es schaffen, schau nach vorn, lass deinen Frust raus – drück die Brust raus – Luft rein, Luft raus!“ (Hand in Hand)

Diese Songs entziehen sich fast vollkommen meinem Urteilsvermögen, da ich sie weder nachvollziehen noch fühlen kann (bis auf die Zeile: "Jeder Mensch hat seine Schwächen – jeder kann was werden – jeder hat doch Dreck am stecken.“). ABER wenn diese Songs auch nur ein einziges Mobbingopfer mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein versorgen können und auch nur einen einzigen Jugendlichen dazu motivieren können, einen Tag weniger die Schule zu schwänzen, dann bekommen diese Lieder allen Respekt und alle Unterstützung von mir, die ich habe.

Mehr Respekt und Unterstützung allerdings gebe ich Massiv für die Songs, in denen er weiterhin überrascht. "Blutsbruder“ zum Beispiel, das entgegen seinem Titel von einer 180 Grad entgegengesetzter Freundschaft handelt, mit dem Traum der ewigen Blutsbrüderschaft gründlich aufräumt und diese Killerzeile bereit hält: "Mann wir kenn uns, schon damals aus dem Kindergarten – wegen deinen Schulden musst ich hunderttausend Leute schlagen“.

Oder eben auch ganz groß der Song "Deutschland“. Zeilen wie "Es ist ne Frau, die das ganze Land repräsentiert – jede Frau wird hier geschätzt, jede Frau hat Rechte hier“ schlagen mir erstmal so richtig mit dem Vorschlaghammer vor den Kopf und man muss fast aufs Cover gucken, um sich zu vergewissern, ob man tatsächlich ein Massiv Album in der Hand hat. Aber so etwas gefällt mir. Das hätte ich so nicht erwartet und deshalb finde ich es richtig gut, auch wenn man das Verhältnis zur Nation mit Sicherheit kleinlicher untersuchen könnte. Aber darüber sollte man dann halt auch Bücher schreiben.

Dass dann allerdings auch noch mit "M.A.S. Techno“ der obligatorische Elektro Ghetto Song drauf ist. Nun ja. Das ist in seiner kalkulierten Überraschung dann wiederum weniger überraschend, da gefällt mir das Rockding schon wieder besser. Passt auch gut zur Anschrei Attitüde des Pirmasensers und Wahlberliners, der zwar auch ein paar ruhige Titel auf dem Album hat, auf dem aber das hoch aufgetürmte, dramatisch, bombastisch laute immer noch überwiegt, so dass man sich am Ende des Albums ein bisschen durch die Mangel gedreht und verschwitzt fühlt.

2 bis 3 Songs weniger und das ganze wäre noch perfekter. Aber dafür gibt’s ja dann die Skiptaste, was bei den insgesamt 17 Tracks ein mehr als positiver Schnitt ist.

Auch das eine absolute Überraschung!

Nachtrag: Dieses Album entspricht absolut der Entwicklung eines engagierten Rappers, der sein drittes Album gemacht hat. Dass ein Majorlabel wie Sony in eine Person wie Massiv investiert, liegt an seinem Erscheinungsbild und seiner Persönlichkeit mit einem gewissen Unterhaltungsfaktor.
Ob sich jetzt allerdings die ambitionierten Ziele eines Musikkonzerns mit der durchaus natürlich Entwicklung eines Rappers in Einklang bringen lassen… das, nun ja, das ist eine interessante Frage.