Meistens sind wir uns in der Redaktion mehr oder weniger einig, was Meinungen zu Alben angeht. Manchmal kommt dann aber ein Album, bei dem die Meinung so verschieden sind, dass es notwendig ist es auf klassische Art und Weise auszudiskutieren. Heute: Daniel vs. MJ zu Kalims „Odyssee 579“.
Daniel: Um eines vorwegzunehmen, ich hatte sehr hohe, vielleicht auch zu hohe Erwartungen an Kalims Debütalbum, nachdem ich sein Mixtape „Sechs Kronen“ rauf und runter gehört habe. Für mich war der deutsche West Coast-Flow etwas sehr eigenes, etwas, was kein anderer Deutschrapper so gut abgeliefert hat wie Kalim, weshalb ich auch so gespannt war das ganze Album zu hören. Nach „mg“ waren meine Hoffnungen immer noch hoch, denn obwohl es nicht den selben Sound hatte wie „Stadtrundfahrt“ oder „Hohlspitzgeschosse“, war es ein ähnliches Gefühl, was vermittelt wurde und es zog einen regelrecht mit, wie das Mixtape. Nach „Ja, immer“ und „Plan B“ hab ich mir schon langsam Sorgen gemacht. Ich verstehe, dass man sich als Künstler weiterentwickeln muss und will. Ich finde das auch durchaus notwendig, denn irgendwann ist der Stil ausgelutscht. Was mir aber an Kalims neuem Stil fehlt, ist etwas, was mich mitzieht, motiviert und mit offenem Mund und nickendem Kopf in meinen Stuhl fesselt. Für mich sind die Beats zu monoton. Es ist ein sehr dunkler Sound, der zwar zum Blockleben und der grauen Landschaft passt. Aber das war beim harten, fließenden Sound des Mixtapes auch der Fall.
MJ: Da ich mit Kalim nicht so vertraut war wie Daniel haben mich die Singles „mg“ und vor allem „Ja immer“ echt überrascht. Klar hatte ich schon den ein oder anderen Track von Kalim gehört und wusste, dass der Hamburger das AON-Qualitätssiegel bekommen hatte, doch die Stimmung auf diesen zwei Songs hat mich sofort in den Bann gezogen. Seine drückende Delivery mit Lines gepaart wie „Ich bin Schwerverbrecher/ und hab Haze klar gemacht, da war die Staatsanwaltschaft noch im ersten Semester“ knallen einfach. Daniel hat Recht, wenn er sagt, dass sich der Sound vom deutschen Westcoaststil zu einem moderneren, vom Südstaatensound inspirierten Klangbild gewandelt hat. Für mich ist es allerdings mehr als nur ein dunkler Sound. Fast im gesamten Album schwingt sowohl auf textlicher wie auch auf Beatebene eine bedrückende Melancholie mit. Kalim erwähnte jüngst in einem Interview, dass einer seiner besten Freunde gestorben ist und ich finde man merkt dem Album an, dass Kalim zu kämpfen hatte. Ähnliche gebaute Beats ziehen sich in der Tat durch das ganze Album. Synthie- und klimpernde Pianomelodien geben die triste Stimmung vor und die Hi-Hats rattern sich durch fast jeden Song. Das gibt dem Album einen roten Faden vor, der einen schmalen Grad zwischen Monotonie und Stringenz geht.
Daniel: Finde ich alles sehr nachvollziehbar. Ich kann auch voll und ganz zustimmen, dass Kalim textlich immer noch auf einem sehr hohen Niveau rappt. Seine Rawness und inhaltsreiche, aber trotzdem leicht verständlichen Texte schaffen eine Atmosphäre, die gut zum Album passt, vor allem in Anbetracht des Ablebens seines Kollegen, welches ja auch auf dem letzten Track „Odyssee Freestyl'“ thematisiert wird. Die Stimmung und das Ambiente des Albums sind sehr einheitlich. Einheitlich kann aber auch schnell zu eintönig werden, was meiner Meinung nach leider hier passiert ist. Ich verstehe, dass es zur Stimmung passt, dass das triste Leben im Ghetto, wo man sein Geld mit Drogengeschäften verdient und Freunde zu früh von einem gehen, nichts ist, was man schönreden oder besser darstellen sollte als es ist – dazu gehören dann auch die Beats. Allerdings ist es möglich, diese Darstellung vielfältiger zu gestalten, um einen abwechslungsreicheren Klang zu erzeugen. Ich höre auch gerne einzelne Tracks von dem Album und finde eigentlich jeden Track für sich alleine gut, vor allem wenn man auf die Texte hört, auf Albumlänge wird es aber etwas repetitiv. Für mich hat das Album es also nicht geschafft, auf dem bereits von MJ erwähnten schmalen Grad zu gehen.
Ich frage mich, was die Motivation hinter dem unerwarteten Stilwechsel war. Kalim betont oft genug in Tracks, dass er viel von Snoop Doggs alten Platten inspiriert wurde und diese Musik auch immer noch feiert. Zudem war von Trap auf „Sechs Kronen“ nicht ein Hauch vertreten, er sagte sogar darauf „Deutscher Rap du enttäuscht mich, K-A-L-I-M, bringt den Style aus 1995“ – und dann geht er in die komplett andere Richtung? Natürlich müssen Künstler das tun was sie zu dem Zeitpunkt anspricht und inspiriert und das finde ich auch wichtig, allerdings kommt es einfach sehr unerwartet.
MJ: Kein Künstler will auf der Stelle treten und sich immer wieder selbst reproduzieren. Scheinbar hat Kalim seinen Westcoastfilm zur Genüge gefahren und hat sich umgeschaut wohin es für ihn in der Deutschraplandschaft geht. Sogar als Rapfan ist das sehr nachvollziehbar. Ich hab das The Game Album „The Documentary“ auch abgefeiert, dass alles zu spät war und trotzdem kommt es mir nicht in den Kopf, das Album jetzt immer noch die ganze Zeit zu hören. Musik zeigt trotz eines hohen Maßes an Qualität eben Abnutzungserscheinungen. Deshalb kann ich mir vorstellen, dass auch Kalim nicht zum hundertsten Mal den gleichen Weg beschreiten wollte. Vielleicht hat auch der Tod seines Freundes dafür gesorgt, dass er sein Leben und damit auch seine Musik in eine andere Richtung lenken wollte. Ob und wie sehr man das „Odyssee 579“ nun eintönig oder wie aus einem Guss findet, liegt wohl auch daran wie sehr einem der Klangteppich gefällt. Ich kann behaupten, dass ich schon einiges an Trapnummern höre, wobei es natürlich besseres und schlechteres gibt. Mich stört es deshalb nicht besonders, dass das Album sich von den Beats etwas repetitiv anhört, denn ich mag den Sound, den David Crates da aus den Boxen zaubert. Aber ich glaube, was Kalims Fähigkeiten am Mic angeht, sind wir uns komplett einig: Dope! Vielleicht kann er bei zukünftigen Releases auf etwas mehr musikalische Abwechslung setzen.
Daniel: Ganz genau. Den letzten Satz würde ich genau so unterschreiben. Auch was die Weiterentwicklung von Künstlern angeht stimme ich dir zu, weshalb ich auch den Wechsel aus einer künstlerischen Perspektive nachvollziehen kann. Wir sind uns also doch in vielen Punkten einig sind. Das einzige, worin unsere Meinungen sich unterscheiden, ist die Bewertung der Beats und das damit einhergehende Gesamtbild des Albums. Ansonsten ist es ein abgerundetes, durchdachtes Werk.
Wer sich selbst einen Eindruck von „Odyssee 579“ verschaffen will, kann das auf Spotify tun: