In den letzten Jahren, in denen die aktuelle, vorwiegend recht junge Rap-Hörerschaft in Deutschland Azad nur noch mit trotzig in Großbuchstaben vorgetragenen Facebook- und Twitter-Posts in Verbindung brachte, hörte man des Öfteren vom Bozz, er wäre mit Hochdruck am neuen Album dran. Doch die Durchhalteparolen, gepaart mit Entschuldigungsversuchen bei der Hörerschaft, machten aus dem damals noch als „Nebel“ angepriesenen Tonträger immer mehr die deutsche Version des bereits zum Running Gag verkommenen „Detox“ von Dr. Dre.
Doch mit der dann endlich erfolgten konkreten Ankündigung einer Fortsetzung zu Azads Erstlingswerk „Leben„, löste die Faust des Nordwestens regelrecht einen Tsunami der Erwartungen aus . Kann „Leben 2“ zum einen die Ansprüche an ein neues Album, auf das man fünf Jahre gewartet hat, zum anderen aber auch an die Fortsetzung eines der maßgeblichen Klassiker der Deutschrap-Geschichte erfüllen?
„Kuck, dieses Album ist das Größte, was ich je gemacht hab nach meinem Kind“
steigt Azad im „Intro“ ein. Die Messlatte liegt somit noch höher als ohnehin schon, denn schnell wird im Verlauf der ersten Anspielstation klar, die Analogie zwischen der Zeugung seines Kindes und dem Schaffen dessen, was gerade in meine Ohren dringt, ist hier sehr bewusst gewählt. Keine Phrase oder falscher Pathos, hier hat jemand versucht, sein ganzes Herzblut in den Produktionsprozess seines klanglichen Babys zu stecken. Ich fühle mich fast wie in einem Blockbuster, dessen Anspruch es nicht nur ist, mich zu entertainen, sondern mir die vollständige Lebensleistung eines Mannes näher zu bringen. Er will mir eine Geschichte erzählen. Aus der Nordweststadt Frankfurts, wo der Ton rau, die Farben grau und das Leben trostlos ist. Aber wo Menschen leben, die dies mit Herz, Ehre und Leidenschaft zu kompensieren versuchen. Und in deren Augen trägt das Festhalten an diesen Attributen dazu bei, dass sie zwar für manche immer der Rest vom Rest bleiben werden, aber trotzdem in Wahrheit besser als alle anderen sind.
„Ihr seid nur Kahbas, ihr seid nur Kahbas, ihr seid nur Kahbas – alle sind am lutschen“
wettert es mir um die Ohren. „Dreh ab“ schlägt genau in diese Kerbe der Selbstabgrenzung und stellt den ersten stabilen Representer auf „Leben 2“ dar. Die Analyse: Deutschrap hat es sich zu bequem gemacht, lebt die falschen Werte und setzt Fame vor Realness.
Diese Abgrenzung findet neben den Texten Ihren Ausdruck in den brachialen Produktionen auf „Leben 2“ , die Azad entweder selbst zu verantworten hat oder von Produzenten anfertigen ließ, die sich in den letzten Jahren bereits einen Namen gemacht haben. m3, X-Plosive, Brisk Fingaz oder Gee Futuristic & Hookbeats stehen für die Qualitätsoberschicht deutscher Produzenten.
Alles auf „Leben 2“ wirkt bis ins Detail durchdacht. Das musikalische Werk im Ganzen kokettiert mit dem Flavour der New Yorker Ära Mitte/Ende der Neunziger. Und das gelingt. Keine Silbe zu viel, kein Soundelement, welches die Atmosphäre eines Tracks stören bzw. diese nicht voll zur Geltung bringen würde. Perfekt gesetzte Cuts von DJ Rafik und Azad selbst. Der einzige Überraschungsmoment von „Leben 2“ ist bisher nur die erstaunliche Kompaktheit des Dargebotenen.
Auch die Features sind klug gewählt .Die Tracks „Rap“ mit MoTrip und „187“ mit Bonez und Gzuz von der 187 Strassenbande flashen sowohl inhaltlich als auch technisch, vor allem aber atmosphärisch. Der Film im Kopf läuft kontinuierlich weiter, mittlerweile ist er so spannend, dass mir mein Popcorn mehrmals auf den Boden fällt und dort unbeachtet liegen bleibt. Kein Zweckreimmassaker, eher Kettenreimvergnügen auf höchstem Niveau:
„Kool G Rap, Nas und Big Pun
wollte mich in ihre Reihen einreihen mit mein‘ Reim
und ich schrieb vom frei sein und teilte dann meine Pein
Ich schlief nie vor drei ein, schrieb weiter an meinen Zeilen“ („Rap„)
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Menschen, die mit Azad bisher musikalisch noch nie in Berührung gekommen sind, ähnliches empfinden, wie ich seinerzeit, als ich „Leben“ entdeckte.
Doch wie in einem Film üblich, flacht das Ganze zwischendrin auch mal etwas ab. Nun findet sich auf „Leben 2“ auch der von mir vorhin zitierten und vermissten Überraschungsmoment wieder. Die Feature-Parts von Jeyz („Werte„), sowie Blut&Kasse („Blind)“, beschränken sich lediglich auf die Hooks. Gerade bei Blut&Kasse, dessen Stimmbild hervorragend auf den Beat passt, hätte ich mir einen ganzen Part gewünscht. Was ich von Jeyz‘ Beitrag leider nicht behaupten kann – hier scheiden sich sicherlich die Geister, mir missfällt jedoch die Art, wie er seine Worte betont, bzw. das R zu rollen pflegt – und reißt mich somit komplett aus dem Song.
Doch das erweist sich nur als eine kurze Durststrecke, die sich auf zwei Tracks beläuft und auch dort nur Details betrifft – Meckern auf hohem Niveau. Ansonsten reiht sich tatsächlich weiterhin Highlight an Highlight, bis Azad kurz vor Ende, gemeinsam mit Schatten und Helden, das Finale in Form von „Weltbild“ einleitet. Stimmgewaltig unterstützt von dem Newcomer-Duo, das bisher vor allem durch dass Covern von Rap-Klassikern an Bekanntheit erlangte. Seine Zeilen mögen vielen naiv vorkommen, sind aber in ihrer Schlichtheit ein angenehmer Kontrast zu den verworrenen, pseudodeepen Polittracks vieler Kollegen, die ein paar YouTube-Videos zu viel gesehen haben. Im Gegensatz zu diesen bleibt Azad bei greifbaren Dingen, bei seinen sprichwörtlichen Leisten. Einfache Worte, die auf eine beeindruckende Art und Weise Missstände beschreiben, sich aber nicht anmaßen,einfache Lösungen für diese anbieten zu können.
Melancholie, gepaart mit Härte und dem immer darin schlummernden Funken Hoffnung, Ehrlichkeit, Authentizität und die bedingungslose Liebe zum Rap – all das zeichnete Azad auf seinem Weg bis hin zu „Leben 2“ aus. Und er hat es geschafft diese Faktoren wieder in ein schlüssiges Gesamtwerk zu packen, welches tatsächlich durchaus Klassiker-Potenzial besitzt. „Leben 2“ beweist, dass Rap von der Straße nicht zwangsläufig Money, Bitches, Drogen oder Gewalt glorifizieren muss, nein, er kann auch einfach nur real sein. Vor allem aber kann er sich glaubhaft von Werten distanzieren, die die Ghettos erst erschaffen haben: Egoismus, Missgunst, Profitgier und herkunftsbedingte Ausgrenzung.