Marc Reis

rap.de: Du hast Dich auf Deiner Platte sehr viel mit Deiner Kindheit beschäftigt. Warum war Dir das wichtig?

Marc Reis: Ich wollte abschließen. Das ist ein schmaler Grat. Ich hab meine Kindheit zu einem kleinen Teil bei meiner Mutter verbracht. Ich kenne meinen Vater nicht. Meine Mutter ist für mich also der beste Mensch der Welt. Zu einem sehr großen Teil hab ich meine Kindheit bei meinem Großvater, also dem Vater meiner Mutter, verbracht. Mein Großvater war ein sehr wohlhabender Mann und meine Mutter war eine sehr fleißige Arbeiterfrau, die einfach nicht viel Geld verdient hat und ich bin zwischen diesen beiden Welten aufgewachsen. Es war nicht immer leicht, sagen wir so. Ich hab viele Dinge erlebt. Ich war zum Beispiel in meiner Schulzeit noch einer der Ausländer. Ich bin heute ja kein Ausländer mehr! (lacht) Ich werde gar nicht mehr als Ausländer wahrgenommen. Ich bin halt einfach Marc. Ich bin ein Quoten-Brauner, der gar nicht schwarz genug ist, um Schwarzer zu sein, aber auch nicht hell genug, um wirklich reinrassig deutsch zu sein. Ich hab meine Jugend aber so erlebt, dass ich einfach immer der „Neger“ war, der ein paar Leuten aufs Maul hauen musste, weil ich das Wort nicht als cool empfand. Dann war ich der „vaterlose Wichser“.
Ich hatte in meiner Jugend einfach viel Stress in der Schule und auch von meinem Opa eine harte Erziehung erhalten. War nicht immer easy, und ich musste das verarbeiten. Es sind auch zwei, drei Tracks nicht aufs Album gekommen, die ich im Nachhinein zu persönlich fand. Da hab ich zu sehr über Leute gesprochen, die mit HipHop gar nichts zu tun haben. Weil eigentlich liebe ich meinen Großvater.
Ich bin auf meine Kindheit eingegangen, so weit wie es für mich gegenüber anderen Menschen verkraftbar ist. Damit hab ich’s für mich verarbeitet und alles ist cool. Ich hab keine Wut oder keine Freude mehr – es ist einfach meine Jugend.

rap.de: Du meintest gerade, dass Du in den letzten Jahren sozusagen vom Ausländer zum Deutschen geworden bist. Wurdest Du integriert oder hat sich da gesellschaftlich was verändert?

Marc Reis: Weiß ich nicht. „Die Gesellschaft“ ist so ein großer Begriff. Ich weiß nicht, was die Gesellschaft gerade tut. Ich kann es direkt an einem Beispiel ausmachen: Mein Cousin ist Jahre später auf dieselbe Schule wie ich gegangen. Als ich zur Schule ging, gab es 430 Schüler, davon waren zehn Ausländer. Das ist kein Spaß, das ist mein Ernst. Als mein Cousin zur Schule ging, gab’s noch 120 Deutsche. Da hat sich also auf jeden Fall was verschoben. Es gibt einfach mehr Mischlingskinder. Ich hab das damals als voll frustrierend wahrgenommen. Da, wo ich gewohnt hab, war ich das einzige Mischlingskind. Der einzige Schwarze! Ich war mit Türken, Jugoslawen und Italienern befreundet und die hatten alle noch so mindestens fünf Freunde der gleichen Herkunft – ich hatte nie jemanden. Ich war einfach der Schwarze, fertig.
Mein Cousin hat wiederum einen Freundeskreis, da hängen mindestens fünf, sechs andere Mischlinge rum. Da frage ich mich, wo die früher waren. Warum waren die nicht da, wo ich war? Ich hab mich schon ein bisschen verloren gefühlt, damals, als ich jung war.

rap.de: Ist das schwierig für die Identitätsfindung, Afrodeutscher zu sein?

Marc Reis: Ich denke schon. Ich denke auch, dass viele Mischlingskinder hin- und hergerissen sind. Wir wachsen nicht mit unseresgleichen auf. „Unseresgleichen“ ist eh schon so ein Begriff. Was ist „unseresgleichen“? Ich war viel mit türkischen Kindern unterwegs, und die haben ihre Kultur auch gelebt und ich hab die dann auch mitgelebt, ganz klar. Ich war einer, die waren zehn, also hab ich mich denen angepasst, nicht andersrum. Das passiert so unterschwellig.
Irgendwann, mit 16, 17, wollte ich wissen, wie ich mich eigentlich zu verhalten hab. Ich fand die anderen cool, aber ich hab mich dann ein bisschen mit Herkunft und so beschäftigt. Es ist ja sehr lustig, dass ein schwarzer Amerikaner zum Beispiel ernsthaft denkt, Afrika sei ein Dritte-Welt-Land oder wenn sie sagen, dass sie damit nichts zu tun hätten. Die Leute haben scheinbar vergessen, wie Schwarze nach Amerika gekommen sind! Wir müssen jetzt nicht tausend Jahre zurück, aber ich bin mir dessen schon bewusst.
Ich bin mir auch bewusst, dass meine Mutter deutsch ist und eine deutsche Geschichte hat. Meinen Vater kenne ich nicht, aber er ist Amerikaner, und irgendwann sind seine Eltern oder die Eltern von seinen Eltern in dieses Land verschleppt worden. Die sind nicht freiwillig da rüber gekommen, um ein Tabakgeschäft aufzumachen. Die waren aus Afrika und wurden versklavt.
Ich find’s halt traurig, dass sich viele Leute nicht bewusst sind, wo sie wirklich herkommen. Ich kann aber besser deutsch als englisch und ich hab also in den Jahren meines Erwachsenwerdens meine amerikanische, afrodeutsche Seite irgendwie gekappt. Das heißt: Ich hab keinen Afro, ich spreche gebrochen Englisch… es ist einfach so passiert. Ich bin deutsch. Ich bin das nicht bewusst, das hab ich mir nicht ausgesucht.
Ich fühl mich hier auch wohl. Ich fühle mich auch integriert. Ich glaube auch, dass dieses Thema für Mischlingskinder, die meine Hautfarbe teilen, schon lange vorbei ist. Ich glaube, dass ein Mischlingskind, das hier die Stellung sucht, ein Ausländer zu sein, lange suchen muss. Ich hab das einfach nicht so erlebt. Ich hab damals, als ich jünger war, gesehen, dass die Oma ihre Handtasche wegzieht, wenn ich in die Bahn steige. Ich konnte das verstehen, ich hab das den alten deutschen Omis nie übel genommen. Als ich jung war, war ich wahrscheinlich auch der einzige Schwarze, aber ich hab nie geklaut oder einer Oma die Handtasche weggenommen. Ich hab sogar schon Leute dafür geknechtet, die das gemacht haben.
Ich war ein unguter Typ mit moralischen Ansätzen (lacht).

rap.de: Vielen Dank für dieses Gespräch.