Mr. Lif

30. November 2001 – es ist mal wieder In-Store-Gig-Time im Kreuzberger Plattenladen New Noise, der für Basti und mich zwischenzeitlich zu einer Art Außenbüro von rap.de geworden ist. Mit gepflegter Regelmäßigkeit tauchen wir hier auf, um vor kurzen Live-Sets die betreffenden Künstler – letztes Jahr u.a. auch Promoe/Looptroop, Edo G. sowie Asheru und J-Live – noch mit ein paar Fragen zu löchern. Hauptgast heute: Planet Asia von den Cali Agents. Supportet wird er von Pep Love von der Hieroglyphics-Crew sowie von Mr.Lif aus Boston. Da Asia aufgrund seines Rufs offiziell die Hauptattraktion ist und ich v.a. seine Beiträge auf dem Peanut Butter Wolf-Album „My Vinyl Weights A Ton“ großartig finde, habe ich mich auf das Interview wesentlich besser vorbereitet, als auf so manch anderes im vergangenen Jahr. Heißt: Internetrecherche, mit Freunden über seine Releases reden und sich das ein oder andere mal wieder anhören. Rausgekommen ist eine Latte von Fragen, und ich bin guter Dinge, als ich das rap.de-Büro Richtung New Noise verlasse. Was dann passiert, ist mehr oder weniger der Super-Gau in Sachen Interviews: Asia beantwortet ca. 20 Fragen in ca. 15 Minuten – als die Sache vorbei ist und Planet Asia überwiegend aussagekräftiges wie „Ja“ oder „Nein“ oder auch mal „Know I´m sayin“ vom Stapel gelassen hat, wäre ich am liebsten nach hause gefahren. Natürlich fragt man sich, ob man was falsch gemacht hat, beruhigt sich aber damit, dass das eher unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlicher ist, dass Asia sein Pulver schon am Vorabend verschossen hat, als er durch semi-philosophische Beiträge zur Unterhaltung im Backstage-Bereich aufgefallen ist: Wortgewaltigst unterhalten sich er und Pep Love über Nichts. Dabei kommen dann auch schon mal ganz praktische Anweisungen zum Leben und Möglichkeiten des Glücklichwerdens zu Tage. Asia äußert sinngemäß (leider eigentlich auch beinahe wörtlich) Dinge wie „Wir müssen durch unsere Nasen atmen und durch unsere Augen sehen“, um kurz später mit glückseliger Miene an ein Rohr des Sofas zu greifen, auf dem er sitzt, und zu sagen: „Du musst es fühlen – das ist Metall“. „Stimmt!“, denke ich mir. „Und außerdem ist in zwei Tagen auch schon wieder Wochenende – schöne Welt“. Vielleicht performen Pep Love und Asia schon irgendwie für uns, vielleicht sind sie auch nur normale Amerikaner – und das wollen wir ja nach Herrn Struck von der SPD spätestens seit drei Monaten alle sein.
 

So oder so war ich nun schon mal im New Noise und hatte ja auch noch fünf Stichpunkte für Mr. Lif auf einen Zettel gekritzelt. Lif ist dieser Typ aus Boston, dessen EP „Enters The Colossus“ der erste Release auf dem DefJux-Label war und der ein bisschen so aussieht wie Whoopi Goldbergs entspannterer Bruder. Nach einer halben Stunde sind Lif und ich tief ins Gespräch versunken, als die Tourmanagerin reinkommt und „Five Minutes“ ruft. Als wir aufhören, ist für mich die Welt wieder im Lot – dank Mr. Lif, meiner Meinung nach kein normaler Amerikaner. Hier ein Auszug:
 
Ich sprach neulich mit einem Freund, der ein Praktikum bei DefJux gemacht hat und der meinte, dass El-Ps Studio hinter einer schweren Eisentür liegen würde – möglicherweise, weil Leute wie ihr, die sehr systemkritisch sind, auch etwas in Gefahr leben…

Lif: Er drückt seine Ansichten definitiv aus, das stimmt, aber ich denke, so krass ist es nicht. El lebt in einer normalen Wohnung, und wie jeder andere hält auch er seine Tür verschlossen, weil er sein Equipment da drinnen hat und er will, dass diese Sachen sicher sind. Aber ich hatte noch nie das Gefühl, dass er sich selbst in Gefahr sieht. Wer weiß – wir alle sind darauf aus, uns auszudrücken und etwas nach vorne zu bringen, das hoffentlich als revolutionär gesehen wird. Ich hoffe, dass wir unsere Gedanken vermitteln können, ohne das Gefühl haben zu müssen, dass unsere Leben bedroht sind.
rap.de: Gestern hast du dich vor dem Soundcheck mit Pep Love über Michael Jackson unterhalten und dabei dessen neues Album extrem gelobt. Zugegebenermaßen hat mich das im ersten Augenblick etwas gewundert…

Lif: Sein neues Album ist unglaublich – er hat mehrere Hits und Classics darauf, ich hab das Ding auch gekauft. Eine Menge Leute versuchen, Michael Jackson abzuschreiben, weil er inzwischen sehr anders aussieht (lacht), aber er ist immer noch „on top of his game“, seine Musik ist immer noch „cutting edge“.
 
rap.de: Ihr habt euch ja auch über ihn als Menschen unterhalten – was denkst du denn über ihn?

Lif: Ich denke, er ist ein seltsamer Typ, aber keiner von uns kennt ihn, und das ist es doch unterm Strich. Niemand von uns hat ihn je angerufen, um mit ihm abzuhängen oder mal essen zu gehen. Wir wissen einfach nicht wirklich, wie er ist. Der Typ ist im Rampenlicht, seitdem er ein kleines Kind ist, und es muss wirklich schwer sein, damit umzugehen, sein Leben vor einer Kamera zu verbringen und ein musikalisches Genie zu sein. Die ganze Welt will ständig wissen, was du tust, und ich wette, der Typ hat kaum Privatsphäre. Sicherlich hat er ein paar Strukturen aufgebaut, um seine Privatsphäre aufrecht zu erhalten – er lebt wohl ziemlich weit weg, aber das gibt den Leuten natürlich auch eine Menge Raum, ihre eigenen Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie er ist. Ich denke, er ist ein sehr mysteriöser Charakter.
 

rap.de: Du kommst aus Boston, und bekanntlich hat Malcolm X dort auch einige Zeit verbracht. Was hältst du heute von ihm – gerade auch, wenn man ihn mit Martin Luther King vergleicht?

Lif: Ich bin zwischen den beiden ziemlich hin- und hergerissen. Da stehen sich die nicht-gewalttätige Politik und eine Politik gegenüber, die Gewalt für Selbstverteidigung und Revolution billigt. Ich denke, beide haben sehr legitime Standpunkte, und man kann große Werte in beiden Haltungen entdecken. Eine der Sachen, die mich an Malcolm X am meisten beeindruckt haben, ist die Phase, als er nach Mekka ging und realisierte, dass Leute verschiedener Hautfarben und Kulturen an dieselben Sachen glauben, an die er auch glaubte. Ich bin an seinen Einsichten interessiert – wie er z.B. vom Straßengangster zu einem weisen Mann oder zumindest zu jemandem wurde, der Weisheit suchte und versuchte, das an seine Gemeinschaft zurückzugeben. Ich weiß, wofür beide stehen, und ich selbst bin auch ein junger, schwarzer Mann, der versucht, Leute überall auf der Welt zu treffen, und hofft, möglicherweise einen Wandel zum Besseren bewirken zu können.
 

rap.de: Malcolm ist ja auch am Aufbau der Nation of Islam maßgeblich beteiligt gewesen. Hat die NOI noch großen Einfluss in den Staaten?

Lif: Sie haben immer noch großen Einfluss, aber ich selbst habe es nicht so mit Religion. Ich denke, dass in jeder Religion verschiedene Faktoren existieren, die Sinn machen. Andererseits waren Religionen in der Geschichte auch häufig eine Entschuldigung für Kriege. Es gibt Konflikte zwischen verschiedenen Glaubensformen, und manche Menschen sind bereit, für ihren Glauben zu sterben. Ich glaube, der Grund, aus dem heraus Leute fanatisch mit Religionen umgehen, liegt darin, dass wir unsere eigene Existenz geschaffen haben, die letztlich mit der kollidiert, die Gott schon natürlich entwickelt hatte. Die Menschen haben sich entschieden, ihre eigene Welt zu kreieren – sie bauten z.B. riesige Strukturen auf, um in großzügigen Häusern zu leben, und sie haben entschieden, dass wir die Herrscher der Welt sind und z.B. nicht mit Tieren auf einer Stufe stehen. Wir haben entschieden, dass wir die wichtigste Spezies sind und dass alles andere da ist, um uns zu dienen. Ich denke, dass das Gründe sind, weshalb wir uns von Gott entfernt haben und wir uns selbst verloren haben. Deshalb haben wir das Christentum, den Buddhismus, den Hinduismus – wir suchen unseren Weg zurück zu Gott. Und dafür gehen wir in diese großen, kunstvollen Kirchen und Tempel, um zu Gott zu beten. Was die Leute nicht verstehen, ist, dass Gott überall ist, er ist die Schöpfung, er ist in jedem lebenden Ding. Das begreifen sie nicht, und es liegt in ihrer Natur, dass sie es komplizierter haben wollen, und deshalb brauchen sie diese fancy Mechanismen, um Gott zu verstehen. 

Natürlich kamen wir auch auf die Geschehnisse des vergangenen Septembers zu sprechen, und da Lif zumeist äußerst politische Texte schreibt, war es naheliegend, ihn zu fragen, ob er auch etwas über den 11. September aufgenommen hat.

Lif: Ja – ich habe auch einen Song dazu. Den Titel möchte ich aber noch nicht nennen, weil er erst in einigen Monaten auf meiner zweiten EP rauskommen wird, aber die wird sich mit vielen dieser Angelegenheiten beschäftigen… ich meine, die Form von Demokratie, die wir hier in den Staaten im Moment haben, funktioniert nicht. Demokratie war als ein System gedacht, das installiert wurde, um den Leuten Macht zu geben und ihnen Einsicht in das zu verschaffen, was die Regierung tut. Was wir statt dessen haben, ist eine Regierung, die das Ziel hat, den Leuten Informationen vorzuenthalten, und die die Leute damit unterdrückt, weil sie nicht das Wissen bekommen, das sie in die Lage versetzen würde, zu verstehen, was wirklich vor sich geht. Deshalb haben wir nur ein äußerst unklares Bild davon, was in unserem Land tatsächlich passiert, und viele Leute sind sich dessen möglicherweise nicht bewusst. Was sie aber wissen, ist, dass sie sich sehr müde fühlen und dass sie es satt haben, viel Geld für die Krankenversicherung auszugeben, dass sie es satt haben, früh aufstehen und ihre Familien verlassen zu müssen, um arbeiten zu gehen und ihr Leben zu verschwenden, weil sie etwas tun, wofür sie keine Leidenschaft empfinden und wofür sie noch nicht mal ordentlich entschädigt werden, weil die Regierung ihnen sowieso 35% dessen nimmt, was sie verdienen. Ich denke, dass diese Dinge neben anderen die Leute dazu führen sollten, zu versuchen, etwas zu ändern.
rap.de: Wie sollten die Leute denn deiner Meinung nach auf ihre aktuelle Lage reagieren?

Lif: Ich wünsche mir, dass sie zumindest den Mut dazu haben, ihre Ansichten zu ändern, ihren Geist offen genug zu halten, einen alternativen Lebensweg und eine alternative Art von Regierung zu kreieren. Etwas, womit wir uns alle wohl fühlen, etwas, das nicht notwendigerweise die Reichen reich bleiben lässt. In meiner Musik versuche ich, die Optionen dafür zu erforschen und darüber zu reden, wo viele der Ungerechtigkeiten liegen. Was ich am meisten unterstütze, ist, dass Leute in sich gehen und versuchen, zu verstehen, wer sie sind, und ihren Leidenschaften zu folgen. Mr.Lif wird es im Frühjahr eine zweite EP geben (auf der DefJux-Mastermind El-Producto wohl auch einen Track produzieren wird), die ihm – vor der für den Herbst angesetzten LP – noch mal die Möglichkeit gibt, die Musik, die er im Moment macht, „mit der Welt zu teilen“. Das Album soll dann eine geschlossene Storyline haben, in deren Verlauf Lif über Verbrechen, das amerikanische Arbeitssystem, Beziehungen, den nuklearen Holocaust sowie das Leben nach dem Tod reflektieren wird. Zu mehreren dieser Teilthemen wird EL-P die Beats beisteuern, auch ein Feature des Labelbosses ist auf dem „Full-Length“ zu erwarten.