Wie viel Druck lastet auf diesen schmalen Schultern aus Bielefeld? Liest man sich durch die bürgerliche Presse zum Thema Casper, so wird von diesem nichts weniger als die Rettung des deutschen HipHops verlangt, und das ist eigentlich eine Erwartungshaltung, an der man nur scheitern kann. „Der Druck steigt“ heißt der Opener (und die Hälfte der ersten Videoauskopplung), und dieses Motto lässt sich durchaus auch auf Benjamin Griffey selbst, so der Künstler mit bürgerlichem Namen, übertragen. Nach dem Motto: Die Gossenkinder haben deutschen HipHop getötet, und jetzt mach ihn mal bitte wieder lebendig, lieber Herr Medienpädagogikstudent. XOXO, Dein deutsches Feuilleton.
Die Frage, ob es überhaupt einer Rettung des deutschen HipHop bedarf, scheint dabei zweitrangig, ebenso wie die Frage, ob Casper wirklich alles alleine machen muss. Haben nicht Künstler wie Marteria, Die Orsons, K.I.Z., Prinz Pi, Basstard, ja sogar Sido und Die Atzen schon längst kreative Vorarbeit geleistet und neue Wege im Genre aufgezeigt? Und wie schlecht steht es wirklich um den deutschen HipHop, wenn sogar ein No-Bullshit-Rapper wie Favorite auf die #4 einsteigt?
Vielleicht sind diese Fakten den gewohnt halbinteressierten und -informierten bundesdeutschen Kulturredaktionen sogar bekannt, aber sie passen natürlich denkbar schlecht in die Dramaturgie. Und so darf die „Frankfurter Rundschau“ ungestört befinden, dass sich deutscher HipHop vollständig „in den Händen halbdebiler Herumstotterer wie Bushido & Co.“ befände, während die Berliner „taz“ mit der Exklusivinformation aufwartet, der arme Casper werde von seinen Rap-Kollegen derzeit „kräftig gedisst“, nachdem Veränderungen innerhalb der Szene so schlecht ankämen.
Zugegeben: Es ist schwer, den Hype um Casper wirklich einleuchtend zu erklären, scheint dieser doch mehr mit der Veränderung von Jugendkultur an sich zu tun zu haben, als mit den spezifischen Wehwehchen des HipHop-Genres. Der 28-jährige ist das Produkt einer sich rasend schnell vernetzenden Welt, in der Grenzen aller Art rascher fallen als je zuvor und in der Jugendliche kein Problem darin sehen, David Guetta neben Bushido und The xx auf dem iPod zu haben. Weil es am Ende des Tages eben scheißegal ist, wer jetzt gleich nochmal welchem Mikrokosmos angehört.
Casper ist – zumindest auf nationaler Ebene – einer der ersten Künstler, die im Teenie-Alter die Auflösung von Jugendkultur als solcher miterlebt haben, aber auch über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, diesen Wertewandel in ein griffiges musikalisches Konzept umzusetzen. Casper macht Musik für Menschen, die besseres zu tun haben, als sich über irgendwelche Schubladen Gedanken zu machen. Dabei verliert er sich aber nicht in willkürlichem Eklektizismus, sondern nimmt sich, was er will und zimmert daraus einen in sich schlüssigen und stringenten Sound.
Aus diesem Grund ist es auch wahnsinnig problematisch, „XOXO“ wie ein klassisches HipHop-Album zu bewerten. Casper schreit, jauchzt, spuckt über die Instrumentals des Albums, die sich je nach Moment kräftig an allen möglichen Spielarten des Rock-Genres bedienen, aber auch nicht vor Elektro-Flächen oder Streichersoli Halt machen, wenn es die Situation gerade erfordert. Erlaubt ist vielleicht nicht, was gefällt; aber erlaubt ist, was Sinn ergibt.
All diese Elemente erzeugen einen Sound zwischen Melancholie und Wut, der perfekt jenes unbestimmte Gefühl der Machtlosigkeit transportiert, welches wohl jeder 14 bis 20-Jähriger verspürt und das mitunter vielleicht auch so manchen Mittdreißiger beschleicht: Man merkt, dass man gegen all diese Unfreiheit, diese Ungerechtigkeit und all die Scheiße dieser Welt aufbegehren möchte, aber wie? Das weiß man dann selber nicht. Rebellen ohne Plan.
Dieser diffusen Grundstimmung des Albums stellt Casper messerscharfe, sperrige Lyrics gegenüber, die es aber dennoch schaffen, jene aufmüpfige „Fick nicht mit uns“-Attitüde zu vermitteln, die schon The Smiths, die Sex Pistols oder Tupac Shakur zu den Königen ihrer jeweiligen Genres aufsteigen ließen. „Die gebändigte Bestie, wieder Stress ins Unendliche / Generation Gott-ist-tot, die ständig Vergessene“ heißt es etwa auf „Blut sehen“, und auf dem erwähnten Opener „Der Druck steigt“ verkündet Casper sogar etwas plakativ: „Resignation, grundzerstört / holen ab jetzt zurück, was uns gehört.“
Der Wahlberliner bleibt in seinen Lyrics eher assoziativ und verzichtet auf klassisches Storytelling. Geschichten werden vielmehr mit Hilfe vieler kleiner, nur lose zusammenhängender Bilder erzählt, die der Hörer,die Hörerin zu einem kompletten Handlungsstrang verbinden muss. Nirgendwo wird das offensichtlicher als in den melancholischeren Momenten des Albums. „Und deine Mum hält dein Zimmer so, wie du’s verlassen hast / an dem Ort, wo dich Willen und Mut verlassen hat / die Lautsprecher tönen es laut / dein Lieblingslied, aber hörst du es auch, sag hörst du es auch?“, rappt Casper etwa auf „Michael X“, der Widmung an einen verstorbenen Jugendfreund, der sich selbst das Leben nahm.
Caspers hervorstechendste Stärke ist es, die großen Themen des Lebens in prägnante Sprachbilder zusammenzufassen, die derart geil sind, dass man sie sich sofort auf den nicht allzu muskulösen Oberarm tätowieren lassen möchte. „Lieben ist Scherben fressen, warten wie viel Blut man dann kotzt.“ Wie wahr, wie wahr und spätestens bei den herausragenden Lyrics holt Casper dann auch den klassischen HipHop-Fan ab, der in erster Linie auf die textliche Ebene achtet und dem die musikalische Untermalung vergleichsweise schnurz ist. Denn Casper ist abgesehen von allem anderen eben auch ein sehr, sehr guter Rapper.
Natürlich muss man gerade als Raphörer nicht alles uneingeschränkt gut finden, was der Bielefelder auf diesem Album so veranstaltet. In lyrischer Hinsicht kommt der beobachtend-poetische Erzählstil Caspers das ein oder andere Mal schon arg prätentiös rüber – diesem Einfluss von klassischen deutschen Seitenscheitelbands wie Tomte oder Blumfeld hätte sich das Ex-Mitglied der Kinder des Zorns auch verweigern können und sollen und bei aller bewundernswerter Stringenz im Soundbild sind manche Refrains und Bridges doch auch zu wenig pointiert, um den Hörer wirklich zu kicken, etwa auf dem Titeltrack oder der zweiten Single „So perfekt“.
Aber hier sind wir echt schon bei der Korinthenkackerei angelangt. „XOXO“ ist alles in allem ein wahnsinnig gutes Album, das nicht nur einen der besten, sondern auch einen der wichtigsten und wegweisendsten deutschen HipHop-Releases der letzten Jahre darstellt. Ob das Ding jetzt als Klassiker-LP des hiesigen Raps gelten darf – keine Ahnung, das müssen sowohl die Zeit als auch die Verkaufszahlen zeigen. Casper hat jedenfalls geliefert und die bisweilen grenzdebile Debatte im Vorfeld des Erscheinungsdatums zum Verstummen gebracht. Alles weitere sehen wir dann schon in ein paar Monaten. Bis dahin sollten wir vielleicht alle einfach „Das Grizzly Lied“ auf Auto-Repeat hören und ansonsten die Fresse halten.