Salem – King Night

Mein Kardiologe sagt mir, ich solle endlich weniger Drogen nehmen, mein Therapeut meint, ich sei größenwahnsinnig, aber ich finde, das hat gar nichts mit Größe zu tun, wenn man wirklich wahnsinnig ist.Der Morgen des zweiten Advents 2010, ich sitze an den Landungsbrücken, neben mir eine leere Champagnerflasche und eine braune Plastiktüte voll mit Porno-DVDs. Um mich tanzen Schneeflocken. Oranges Flutlicht, das die monströsen Formen des gegenüberliegenden Hafens beleuchtet, spiegelt sich in den Eisschollen auf der Elbe.

Manche von Euch würden mich jetzt wahrscheinlich gerne fragen: „Yo, Kyle Rixton, wer kauft sich denn heute noch Pornos? Internet? Schon mal gehört?“ Und ich würde gerne antworten: „Ich persönlich liebe die Erniedrigung dieses Moments, wenn ich im Sexshop einen Stapel Pornos auf den Tresen knalle, und mich damit der Mutti an der Kasse als einer dieser Typen zu erkennen gebe, die auf Filme stehen, in denen sich japanische Schulmädchen stundenlang gegenseitig in den Mund kotzen.

Liebe rap.de-Leser. Ich würde mich ja bei Euch entschuldigen. Wenn es dafür irgendeinen Grund gäbe.

King Night“ dröhnt und scheppert durch die Kopfhörer in meine langsam erfrierenden Ohren. Klingt nicht halb so fies und mächtig wie vorhin im Café Keese, wo ich Salem ein paar Stunden früher live gesehen habe, aber egal, der blecherne, übersteuerte Gruselsound der Studioaufnahmen passt gut zur Kälte.

Kyle Rixton ist ein Ghost Writer, denn er schreibt Geister. Kyle Rixton ist verwandt mit Kopfschmerzen.

Salem nehm´ ich noch mit, und Sylvester wird vielleicht auch noch ganz gut, aber dann ist Schluss, dann hab ich keinen Bock mehr.“ Seit 20 Minuten schon erzählte mir dieser dürre, kleine Junge mit den löchrigen Klamotten und der Hipsterfrisur von seinem traurigen Leben als nicht geouteter Schwuler in einer norddeutschen Kleinstadt und von seiner unglücklichen Liebe zu einem Siebzehnjährigen. Irgendwann fragte er mich, ob ich auch schwul sei. „Was, Du dreckige kleine Schwuchtel, nur weil ich enge rosa Hosen und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt bis zum Bauchnabel trage?“ Sofort brach ich ihm das Gesicht mit einem extrem heterosexuellen Faustschlag. – OK, nein. In Wahrheit lief ich weinend weg, schloss mich in eine Toilettenkabine ein, rollte mich zitternd auf dem mit Pisse, Straßendreck und Schamhaaren bedeckten Boden zusammen und rief meine Ex-Freundin an, um sie zu fragen, wieso sie mich nicht mehr liebt. Sie drückte meinen Anruf weg. Jemand schlug gegen die Tür und schrie mit heiserer Stimme und in diesem ekelhaften hamburgischen Proletendialekt: „Ey, Digger, was machsu da drin? Ich komm da gleich rein und helf´ Dir, Digger!“.

Als ich wieder in den spärlich gefüllten Saal zurückkam, hatten Salem schon angefangen zu spielen. Mit den Händen Rappergesten in Zeitlupe ausführend murmelte Jack Donoghue Verse über Mord und Vergewaltigung ins Mikrophon. Ein dünnes, dunkelrotes Rinnsaal lief aus seiner rechten Armbeuge. Die beiden anderen Bandmitglieder standen mit vollkommen unbeteiligten Mienen vor ihren Geräten und produzierten eine Wand aus wunderschönem Lärm. Der Bass ließ meine Hosenbeine flattern. Direkt vor der Bühne hingen so ein paar dämliche Mode-Blog-Bitches, klickten mit ihren digitalen Spiegelreflexkameras und kamen sich total cool vor. Ich ging zu ihnen hin und schrie sie an: „Ihr denkt, Ihr habt voll die Ahnung, aber Ihr habt nichts verstanden, gar nichts!“.

An der Bar trank ich einen Schnaps nach dem anderen. Die Drogen in mir bewirkten, dass ich den Alkohol kaum spürte. Wie betrunken ich wirklich war, merkte ich erst, als ich mich irgendwann vom Tresen lösen und zum Ausgang gehen wollte, und meine Beine einfach wie schlaffe Tentakel unter mir wegglitschten. Zwei Securitymänner hoben mich auf und trugen mich raus. Als wir an der Garderobe vorbeikamen, hörte ich, wie der Typ, der dort arbeitete, einer der Bloggerinnen erzählte, er sei vorhin mit Salem Heroin kaufen gewesen. Ich glaube, ich schrie so etwas wie: „Yeah, Heroin, ich brauch auch Heroin! Gebt mir den Schuss direkt in mein verficktes Herz!“ Die Securitymänner warfen mich in den dunkelgrauen Schneematsch auf der Reeperbahn.

Kyle Rixton bestellt seine Steaks roh, denn er leckt gerne Blut.

Nach einer Weile gelang es mir ein Taxi anzuhalten. Aus irgendeinem Grund überlegte ich, wie es wäre, wenn Udo Lindenberg mit mir auf der Rückbank sitzen und was von „Bunte Republik Deutschland“ und „Panikpanther“ und solchem Stuss faseln würde. Diese Vorstellung ließ mich in ein hysterisches Lachen ausbrechen, das dem Taxifahrer so sehr missfiel, dass er anhielt und mich bat auszusteigen. Ich riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und sprintete lachend durch das Schneetreiben davon. Der Fahrer fluchte mir hinterher, hatte aber keine Lust mich zu verfolgen. Vor einer Bar lief ich in einige Leute, die ich wohl kannte, jedenfalls ging ich mit ihnen rein und bestellte eine Runde. Ich unterhielt mich mit einem dicken Mädchen, dessen Gesicht mit Piercings verziert war wie eine Jeansweste mit Nieten. „Weißt Du, was sie sagen werden? ‚Aber, aber – das ist doch gar keine richtige Review, da steht ja gar nichts über die Musik drin, stattdessen lebt nur dieser Schwanzlutscher Kyle Rixton mal wieder seine Profilneurose aus.’“. „Wer wird das sagen?“. „Keine Ahnung. Weißt Du, was sie noch sagen werden? ‚Und, und – außerdem sind Salem überhaupt nicht HipHop, das ist voll die schwule Raverscheiße„. „Du bist ganz schön drauf, oder? Hast Du noch was dabei?“. „Für mich klingt das alles nur wie: ‚Wäh, wäh – Kyle Rixton hat mir meinen Schnuller geklaut und außerdem sind meine Windeln voll mit AA.’“.“Du bist zwar nur ein halbes Hemd, aber dafür ein ganz großes Arschloch.“. „Genau. Was ich sagen möchte ist: Wäre es nicht abgefahren, wenn wirklich lauter kleine Menschen in Baggy Pants und New Era-Hats zuhause vor ihren Computern meine Gedanken lesen und dann mit wutroten Gesichtern Hassbotschaften an mich in ihre fettigen Tastaturen hacken würden? Natürlich weiß ich, dass das nur eine meiner paranoiden Wahnvorstellungen ist.“.

Danach müssen noch ein paar Sachen passiert sein, aber ich kann mich nicht so genau erinnern. Ich glaube, irgendwas war da mit Hunden und Rastas, und irgendjemand meinte, er würde gern mal jemand erschießen, er habe gehört, das sei ein richtig geiles Gefühl. Jetzt sitze ich hier an den Landungsbrücken und denke darüber nach, ob es eigentlich fair sein kann, dass alles gleichzeitig so schrecklich und so wunderbar ist. Wahrscheinlich ist der Kapitalismus schuld, der uns mit diesem ganzen Wettbewerb und dem Konsum und der falschen Freiheit fertig macht. Im Sozialismus ist alles viel gleichförmiger, glaube ich. Nachher werde ich nach St. Pauli gehen und mich dort den Autonomen anschließen. Dann werde ich es dem scheiß System richtig besorgen. Autos anzünden und so. Bis dahin höre ich noch mal „King Night“ und schaue den Schneeflocken zu, die weiter aus dem allmählich heller werdenden Himmel fallen.