Kanye West – 808’s & Heartbreak

Ehrlich gesagt bin ich sehr froh, dass ich diese Kritik erst schreibe, nachdem ich gestern Kanye West Live in Hamburg sehen und das Ausmaß dieses Genies im fortgeschrittenen Stadium der Geisteskrankheit begutachten konnte.

Kanye West ist offiziell verrückt und ich denke, das kann man nach dem gestrigen Abend ohne Probleme laut aussprechen. Aber Kanye West ist auch genial und zwar richtig genial im Sinne von Richard Wagner oder so.

Kanye West inszeniert sich als einsamer Wanderer im Universum. Unverstand von der Welt und allein auf dem Olymp – und er hat recht. Da wo sich Kanye West zur Zeit aufhält, werden ihm nur sehr, sehr begrenzt Menschen folgen können und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass das Bühnenbild seines Konzerts die meiste Zeit aus Sternenlandschaften bestand. Sterne im Weltall, einsame Sonnen, die explodieren, die Atmosphäre fremder Planeten,vorüberziehende Wolken und dazwischen eine Art Peter-Pan-Flash-Gordon-Tabaluga-Kanye.  Und genau so klingt auch das aktuelle Album des Herrn West.

808’s & Heartbreak ist die radikale Abkehr von allem, was Kanye West bislang gemacht hat. Die wenigen Rapparts, die es gibt fügen sich zwar harmonisch und logisch ins Gesamtgefüge ein, aber von einem Rapalbum kann man definitiv nicht mehr sprechen.
Kanye West reiht sich mit diesem Album in die Tradition entfesselter Künstlerpersönlichkeiten wie George Clinton oder David Bowie und kreiert eine Musik die sämtliche Hautfarben- und Genregrenzen aufhebt und vielleicht gerade in einer Band wie TV on the Radio ihr avantgardistischstes Modell hervorgebracht hat. (Absolut empfehlenswert übrigens: http://www.myspace.com/tvotr) Wobei diese wahrscheinlich bei weitem nicht an den kommerziellen Erfolg des Louis Vuitton Boys anknüpfen können.

Nichtsdestotrotz werden hier hemmungslos Streicher, sphärische Chöre und diverse elektronische Störgeräusche eingesetzt. Es wird dilettantisch rumgesungen und ständig hat man das Gefühl, dass der Künstler sich jeden Moment in die Luft erhebt, so leicht und schwerelos, so geistesabwesend und losgelöst von allem hört sich der Sound an.
Das ist wahre künstlerische Freiheit. Das ist "ich mache, was ich will“ in Reinkultur und die Welt steht fassungslos davor und spätestens an dieser Stelle müsste man sich fragen, wie viele Konventionen man immer noch mit sich rumträgt?

Inhaltlich drehen sich die Texte vielleicht um Frauen und die Liebe, aber im Grunde, das ist das schöne, geht es ausschließlich um den Künstler selbst. Kanye West betrachtet und seziert sich selbst mit der Ausdauer eines feinen Chirurgen, ohne sich jemals auch nur ein Stück näher zu kommen. Er bleibt sich selbst ein Fremder und das macht es auch bei mehrmaligen Hören des Albums nicht langweilig. Überrascht, fasziniert, angewidert und gleichzeitig in ehrfürchtiger Bewunderung begegnet sich Kanye West in den Songs und lässt uns teilhaben an der Ungerechtigkeit der Welt. Denn obwohl er die faszinierendste Person auf diesem Erdball ist, oder wie eine Computerstimme gestern Abend auf der Bühne verkündet hat: "The biggest star in univers" – so bleibt er doch immer nur eine einsame Seele. Verraten, verkauft und unverstanden.

Frauen verhalten sich wie Robocops, brechen die Herzen und rufen nicht zurück – trotz allem.
Das Leben ist nicht fair. Word up.

Ein großes Album.

Selten hat es so viel Spaß gemacht, jemandem beim geisteskrank sein, zuschauen zu dürfen. Weiter so!

P.S.: Warum jemand, der nicht singen kann, trotzdem so verzweifelt und nachhaltig singen möchte? Das wissen die Götter und die Frage darf und muss gestellt werden. Autotune macht’s auf jeden Fall möglich.

PPS: Dieses Widget habe ich auf der Seite www.metrolyrics.com gefunden. Vielleicht ist Herr West doch mehr Pop und weniger Avantgarde als ich in dieser Hommage an ihn sehen wollte? Wer weiß?