Das Thema für die heutige Abrechnung war vorhersehbar, oder? Jeder zerreißt sich momentan das Maul über JuliensBlog, der die Vergasung aller Lokführer gefordert haben soll und nun argumentiert, dass das nur schwarzer Humor gewesen sei. Das geschmacklose und schockierend uninformierte Statement geistert durch sämtliche Medien – und jeder zeigt sich schockiert. Offenbar sah Julien sich sogar in der Pflicht, dem Radiosender Das Ding das erste Interview seiner Karriere zu geben. Ich weiß nicht was mir mehr auf den Sack ging – Juliens bemüht desinteressiertes Dummgelaber von schwarzem Humor oder die unterwürfige Bestürzung des zaghaften Moderators, dessen Rhetorik der eines Zahnstochers entspricht.
Dass Julien Sewering, der zu den erfolgreichsten Youtubern Deutschlands gehört (und sich nebenbei bemerkt ein Netzwerk mit unserem Liebling Liont teilt), der politisch unkorrekteste Scheiße-Schwafler ist, den man sich vorstellen kann, ist doch nichts Neues. Seit Jahren gibt der Typ Tutorials zum Verprügeln von Frauen, verspottet die Armut in Ländern der dritten Welt, zieht über „Dreckskanaken“ her, verlacht Behinderte, amüsiert sich über Unglücksfälle und Terroranschläge und so weiter. Das volle Programm eben. Ich habe bezüglich derlei Geschmacklosigkeiten selbst so gut wie keine Schmerzgrenze – Julien schockiert mich also nicht. Auch nicht mit Holocaust-Verhamlosung. Korrekt oder gerechtfertigt finde ich sein Schaffen deshalb aber keineswegs. Wer meint solche Witze machen zu müssen, soll das gefälligst in einem angemessenen Rahmen machen – und nicht vor einem Millionenpublikum von Kindern. Außerdem sollten sie nach Möglichkeit lustig sein und sich nicht auf Abwandlungen völkischer Parolen beschränken. Sich an dieser Stelle noch darüber aufzuregen, nachdem er mit seinem Vergasungs-Aufruf bereits durch sämtliche Medien wanderte, wäre ohnehin ein Tropfen auf den heißen Stein.
Was Julien aber die zweifelhafte Ehre beschert, in dieser Rubrik aufzutauchen, ist nicht sein verdrecktes Mundwerk, das ihm mal jemand mit Batteriesäure auswaschen sollte. Der Kerl kann nämlich nicht nur die politische Meinung seiner jungen Jünger beeinflussen, sondern auch deren Bild von Rap – deren Musikgeschmack. Ich glaube, Juliens Einfluss auf die Kernzielgruppe von Rap ist viel größer, als wir es an unseren Schreibtischen wahrnehmen. Unlängst bewiesen durch SpongeBozz, der mit seinem „Planktonweed Tape“ (das ich für unfassbar scheiße befunden habe) mal eben im Vorbeigehen die Chartspitze knackte und sich momentan steil auf Goldkurs befindet. Ich kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Schwamm ohne Julien und dessen Lobreden auf den quäkigen Quälgeist, keinerlei Beachtung bekommen hätte. Unter dem gelben Kostüm steckt SunDiego, das sollte mittlerweile bekannt sein. Warum verkleidet ein relativ etablierter und nicht untalentierter Rapper sich Zeichentrickfigur und nimmt an einem Battleturnier teil? Weil sein Ruf furchtbar ist. Warum ist sein Ruf furchtbar? Wegen JuliensBlog.
Der gute Julien hat in seiner Analyse von Kollegahs „Bossaura“ nämlich aufs übelste gegen SunDiego gewettert, der die Schuld an den Autotune-Hooks und den weichgespülten Plastikbeats trug, die zugegebenermaßen eine absolute Zumutung waren. SunDiego sah sich der Meinungsmache des Shitstorm-Beschwörers Nummer eins gegenüber hilflos ausgeliefert. Da trifft die geflügelte Phrase „Karriere beendet“ im Grunde zu. Die Kinderarmee ächtete Diego. Wie dem auch sei, wenig später beschloss Julien, der eigentlich stets betonte, „auf keinen Fall ein Rapper“ zu sein, ein eigenes Album an den Mann zu bringen, das den ästhetischen Titel „ANALyse“ trug. Mann, war das scheiße. Wie unfassbar krampfhaft der Kerl sich bemühte Tabus zu brechen, war fast schon traurig mit anzusehen. Kostprobe?
„Nutten werden missbraucht und behinderte Kinder getreten Piss‘ auf Obdachlose, schubse Rentner vorn Wagen Und ich infizier‘ mit Junkie-Nadeln Spenderorgane“ (JuliensBlog – 11. September)
Diese widerliche Perversion von Rapmusik jedenfalls, wurde offenbar in SunDiegos Tonstudio in Osnabrück aufgenommen. Ebenso teilten sie laut Amazon den Vertriebsweg des Labels RecordJet. Offenbar wurde Frieden geschlossen. Nun galt es, den eigenhändig beschädigten Ruf des neu gewonnenen Weggefährten wieder herzustellen. Der Rest des Verlaufs sollte soweit bekannt sein. Warum habe ich diese mitreißende Geschichte von Krieg, Zwist und Hass, Versöhnung, Frieden, konspirativer Geschäftsmethoden und dem Aufstieg eines neuen Sterns am Rap-Himmel an dieser Stelle aufgearbeitet? Weil sie die erschreckende Macht zeigt, die Julien über die Gemüter seiner Fans hat. Der Rattenfänger von Hameln, der die Kinder in den Fluss führt.
Wenn wir eine Review veröffentlichen, wird unter dem Beitrag diskutiert. Da wird recht gegeben, werden Gegenargumente genannt oder dem Rezensenten unterstellt, er habe „keine Ahnung von Rap„. Wenn Papa Julien etwas rezensiert, beziehungsweise die Teilnehmer seines Battleturniers bewertet – dann ist das so. Das schlägt sich dann auch ganz schnell auf die Youtube-Bewertungen, die das Publikums-Voting darstellen, nieder. Gegenstimmen werden im Keim erstickt. Noch auffälliger: Die Schwerpunktsetzung der Stilmittel. Soll heißen: Was Julien in seinen Rapanalysen anpreist, das ist für den blauäugigen Durchschnittshörer wichtig. Reimsilben und Doubletime, darauf kommt es an! Damit wird argumentiert. Empirisch quantifizierbare Attribute – nach diesen Maßstäben bewertet dieser selbsternannte Experte Rap. Hey, es wurde ein Algorithmus namens Deep Beat entwickelt. Der hat eine gigantische Reimdatenbank und findet Reime, die angeblich „die besten menschlichen Rapper um 21 Prozent“ übertreffen. Ist das jetzt der beste Rapper weltweit, weil die Rhymes länger sind?
Der Witz bei der ganzen Sache ist eigentlich, dass seine Anhänger quasi nichts anderes kennen, als das was ihnen diktiert wird. Wenn er jemandem einen geilen Style andichtet, dann ist das für die Kids auch so. Dann ist ein Gary Washington, mit seinem unerträglich nasalen Geflexe, plötzlich ein Styleking. Einer seiner Teilnehmer namens King Eazy präsentiert sich bevorzugt auf Trap-Beats und packt dabei ebendiese Südstaaten-Flowtechniken, wie das dipping aus. Der Kerl gefällt mir übrigens ganz gut. Aber wie weh tat es, als ich über einen Youtube-Kommentar stolperte, ich weiß nicht mehr genau wo, der dem Protagonisten unterstellte, eine billige King Eazy-Kopie zu sein. Wegen 808-Drums und Flows aus Atlanta. Vielen Dank Julien, du mit deinem Dummgelaber, hast der Youtube-Kommentarleiste den endgültigen Todesstoß gegeben. Überhaupt hast du dem Rap-Verständnis der 10-16-Jährigen den Todesstoß gegeben. Du hast es in den Dreck geworfen und SpongeBozz gab ihm finalen Bordsteinbeißer.
Wenn du ihnen ihren Musikgeschmack diktieren kannst, kannst du ihnen auch ihr politisches Verständnis diktieren – das ist dir hoffentlich klar, lieber Herr Sewering. Ich hoffe dir ist auch klar, dass 12-Jährige zwar registrieren, dass du dein Schaffen mit der Phrase „schwarzer Humor“ titulierst, diese das aber trotzdem unreflektiert übernehmen. Ich spare mir jetzt das restliche Gewäsch von wegen Verantwortung und so, das ist nicht mein Ding. Aber deine kleinen Jünger kleben sowieso an deinen Lippen, vollkommen egal was du machst. Du kriegst deine Kohle, medialer Aufschrei hin oder her. Und Rap gibt viel mehr her, als deine spießig deutschen, engstirnigen Kriterien. Warum also, musst du dich als den größten Hurensohn aller Zeiten inszenieren?