Alter Egos werden im Rap oft benutzt, um experiementierfreudigen Seiten des künstlerischen Ichs Ausdruck zu verleihen. Ob Slim Shady oder Herr Sorge, sie alle vereint das Bedürfnis, unter einem Pseudonym befreiter, ohne Vorgeschichte an die Musik herangehen zu können, ohne sich Sorgen um eventuell enttäuschte Fanhörerschaft machen zu müssen. Vielleicht nicht immer erfolgreich, siehe Herr Sorge, manchmal aber, und hier spannen wir den Bogen zu RAF Camora, sogar extrem förderlich.
Hatte sich RAF als 3.0 beim ersten Mal in Richtung Dancehall gewagt, geht er nun mit „Hoch2“ wieder nicht den Weg des geringsten Widerstands, sondern im Gegenteil den experimentellen. Dancehall Einflüsse sind weiterhin vorhanden, werden aber ergänzt durch Grunge Einflüsse, die der offenen Bewunderung RAFs für Nirvana und deren verstorbenen Frontmann Kurt Cobain geschuldet sind. Nehmen wir das an dieser Stelle mal vorweg: Wieder ein absoluter Treffer ins Schwarze.
Das Album beginnt mit diesen dumpfen, atmosphärisch beeindruckenden Gitarrenklängen, die durchs Intro wabern und geht über in die erste Singleauskopplung „Phantom„. RAF heißt alle „willkommen die mich nicht kenn‚“ und representet danach ausgesprochen gekonnt. Ein durch majestätische Streicher unterstützter Beat liefert die perfekte Untermalung für die Ode an die eigene Musik.
„Und ich guck in den Mondschein, uns kann nicht mal der Tod teiln/ irgendwann wird meine Musik ein Phantom sein, und es lebe für immer„
Ein starker Opener, der von „Vergiss den Rest“ abgelöst wird, einem fast klassischen Representer („bin ein bisschen schizo/ bisschen Berlin auf meinem Wien-West Trikot„), der zusammen mit „Phantom“ einen absolut gelungenen Einstieg ins Album ergibt. In der Hook pumpt der Beat mehr als der ein oder andere Rapper im Jahr auf der Hantelbank und RAF hält in den Strophen das Tempo angenehm hoch. Da geht also was und obwohl deutlich nachdenklicher und ruhiger ist das anschließende „Schwarze Sonne“ in Kollaboration mit Neu-Nummer-Eins-Rapper Prinz Pi und Eintracht Frankfurt-Ultra Vega, in keiner Weise eine Delle in der Spannungskurve, die, nehmen wir auch das vorweg, bis auf ein zwei Schlenker, konstant ganz oben am Maximum kratzt. Ein in dieser Kombination sicher ungewöhnlicher Track dreier sehr unterschiedlicher MCs, die aber allesamt abliefern. Pi sticht textlich zwar etwas heraus, das Niveau ist aber auch insgesamt sehr hoch.
„Im Buch steht, Moses hat das Meer geteilt/ doch wenn es fast nix gibt, wird nix mehr geteilt„
Auch die anderen Gastparts von MoTrip, der derzeitauf fast jeder erfolgreichen Platte vertreten ist und diesen Umstand jedes mal wieder rechtfertigt, so auch hier („Zum Quadrat„), Sierra Kidd, dem gerade erst von RAF höchstpersönlich gesignten Newcomer aus Bremen („Einmal Star & Zurück„) sowie Chakuza und Joshi Mizu („Wie weit?„), den beiden österreichischen Landsmännern des Protagonisten, gehen absolut konform mit dem hohen Niveau des Tonträgers, keiner fällt ab, genauso wenig wie RAF dadurch in den Hintergrund gerückt würde.
Generell bewegt sich RAF bis auf wenige Ausnahmen auf einem textlich sehr anspriuchsvollen Niveau, gekonnt eingesetzte Doubletime Passagen folgen auf straight eingerappte Parts und diese auf gesungene Hooks, die aber selten auch nur ansatzweise cheesy wirken. Da bewegt sich jemand ganz bewusst zwischen verschiedenen Stilmitteln, spielt damit gekonnt. Das ist kein verkrampfter Stilmix, der jedem gefallen möchte, nein, hier wächst organisch zusammen, was vorher scheinbar nicht zusammengehörte.
Das Herzstück des Albums, das sich im Gegensatz zum Vorgänger mit Menschen statt mit Maschinen beschäftigt, stellt dann „Evol Pt. 1 – 3“ vor. Einmal rückwärts lesen, bitte. Genau: Eine Art Liebesgeschite in drei Teilen. Vom verliebten Eroberer in „Gib mir deinen Namen„, zum glüklichen Ist-Zustand in „Wie Neu“ und von dort zum Zerfall der Liebe in „Träumer„, in dem der Grunge-Einfluss erneut unüberhörbar ist, wird die Sonnen- wie die Schattenseite des Lebensbejahendsten Gefühls der Welt dargestellt und veranschaulicht. Ein ambitioniertes Konzept, das viele andere Rapper sicherlich verbaselt hätten. RAF nicht. Der kann das. Erstaunlich.
RAF 3.0 erzählt ganz eigene Geschichten, mal in die Zukunft, mal zurück blickend, mal hoffnungsfroh, mal resigniert, mal prollig, mal selbstkritisch, kurzum: menschlich. Und alles untermalt von punktgenauen Produktionen, die obwohl oft sehr voll, nur äußerst selten übertrieben oder verstopft wirken. RAF gelingt ein weiteres Mal der Abschweifer in die experimentelle Musik, ohne weniger HipHop oder Rap zu sein als sonst. Er erschließt nur neue, bisher unbetretene Gebiete. Freilich gibt es auch den einen oder anderen Schwachpunkt, „Freunde“ etwa fällt im Vergleich zum Rest etwas ab, aber es bleibt unter’m Strich ein grandios niveauvolles Album, sowohl auf Beat- wie auf Textebene. Eben Niveau „Hoch2„.