Ohne Spaß: Wie soll man diesem Werk gerecht werden? Zumal der Maestro selbst gestern auf Twitter verkündet hat, dass er „white people“ zwar „liebe, liebe, liebe„, sie aber niemals verstehen könnten, was es heiße, es als Nachfahre von Ex-Sklaven so weit gebracht zu haben. Ich schreibe also über ein Album, das ich gar nicht verstehen kann. Challenge accepted.
I love love love white people but you don’t understand what it means to be the great grandson of ex slaves and make it this far.
— KANYE WEST (@kanyewest) February 15, 2016
Denn natürlich ist das mit der angeblich schwarzen Musik Bullshit. „The Life Of Pablo“ ist ein Stück Musik, und Musik ist, banal und oft gesagt, eine universelle Sprache. Im konkreten Falle ist es eine bisweilen sehr rüde, aggressive Sprache, aber auch zärtlich, humorvoll, lässig. Dann wieder überheblich, großkotzig, fordernd. Kanye lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Dass seine Identität als Afroamerikaner dabei eine große Rolle spielt, ist zwar richtig, heißt jedoch nicht, dass Nicht-Schwarze das nicht verstehen und fühlen könnten. Und er deckt dabei die gesamte Bandbreite ab, von himmelhochjauchzend bis zum Tode betrübt. Selbstherrlich bis unsicher. Ängstlich, aber mutig. Himmel und Hölle und alles dazwischen. Nicht, dass er das nicht schon vorher gemacht hätte – aber auf „TLOP“ prasselt es einfach ungefiltert auf den Hörer ein.
Ungefiltert ist ohnehin das Stichwort für „Pablo“ : Kanye West hat offenbar keinen Bock mehr, durchgestylte Alben zu veröffentlichen, die nach dem klassischen Schema F aufgebaut sind, das die Industrie für den Hörer, der für sie ohnehin nur Käufer ist, vorgesehen hat. Er macht einfach, worauf er Lust hat und was er fühlt: Musik. Gut, das behauptet natürlich jeder, aber wer sonst bitte verzichtet so konsequent auf Singles, Radiohits und eine wohlgeordnete Tracklist? Genau, keiner. Zumindest keiner von dieser Größenordnung, von diesem Rang, von diesem Talent. Denn er kann ja anders – wenn er wollte, könnte er vermutlich noch dreißig Alben wie „My Beautiful Twisted Dark Fantasy“ raushauen und sich dafür brav loben lassen. Hat er aber offensichtlich keinen Bock drauf, und das ist gut so.
„The Life Of Pablo“ ist tatsächlich Kunst, deshalb wird es allen, die den rucksacktragenden Kanye mit den Soulsamples wieder zurückhätten, nicht gefallen. Kunst im Sinne von Können, nicht von Wollen oder Probieren oder gerne Möchten. Yeezy wirft wieder mit zahllosen musikalischen Einflüssen um sich als wäre das gar nichts. Die Bandbreite auf „TLOP“ reicht von gewaltigen Gospel-Chören über Reggae-Schnipsel bis hin zu düsteren Basslines, wie man sie in Londoner Clubs hört bzw. spürt. Gegen Ende des Albums gibt es sogar ein paar fast schon klassische Rap-Songs zu hören. Das alles vom Meister mit extrem viel Geschick und Können zubereitet, arrangiert und serviert. Die Beats, wenn dieses Wort den durch die Bank einzigartigen und prägnanten Instrumentalen überhaupt gerecht wird, basieren meist auf einer ganz einfachen Idee – die man aber erstmal haben muss. Und Kanye hat sie eben, im Überfluss.
Musikalisch ist „The Life Of Pablo“ visionär, unbeschränkt kreativ, offen für vieles und trotzdem auf seine Art und Weise schlüssig. Nicht schlüssig wie ein durchkonzipiertes Langweiler-Album freilich, bloß das nicht. Schlüssig im Sinne von: Hier gießt ein Genie all seine Einflüsse zusammen, sucht sich das Beste aus und haut es dir um die Ohren. Schlüssig im Sinne von: Das ist meine Lebensgeschichte in Musik verpackt, hör es dir an oder lass es und fick dich.
Und auch inhaltlich, textlich ist Kanye mittlerweile im Zenit seines Schaffens angekommen. Hinter all den obszönen Bildern, dem drastischen Größenwahn, dem Selbstmitleid, der Dankbarkeit gegenüber wenigen, dem religiösen Irrsinn steckt eine klare, einfache, eine durch und durch amerikanische Message: Glaub an dich und deine Träume, scheiß auf das, was andere von dir denken. Das steckt hier in jeder Zeile, in jedem Witz, in jedem bitteren Sarkasmus. Viele droppen diese Phrasen von wegen „Du sollst nicht anderen gefallen wollen“ – Kanye lebt sie einfach, bis zum Exzess, bis über jede Schmerzgrenze hinaus, bis ins extremste Extrem. Und es ist spannend, inspirierend und offen gestanden auch extrem unterhaltsam, ihm dabei zuzusehen und zu -hören.
Das gilt natürlich beileibe nicht nur für seine Musik. Man könnte an dieser Stelle „The Life Of Pablo“ auch ins Ye’sche Gesamtwerk einreihen, zu dem neben hervorragenden Alben auch Schuhe, Mode, Twitter-Grind, Interviews und jede Menge Show zählen. Aber das führt alles zu weit – zumal ich ehrlich gesagt nicht das geringste von Mode verstehe. Letztlich geht es aber eben doch vor allem um die Musik, und die ist von allerfeinster Güte, auch wenn das allen, die lieber ein „normales“ Rapalbum hören, nichts bringen wird. „TLOP“ ist alles, aber nicht normal.
Wer den Albumtitel zum Anlass nehmen möchte, sich ein wenig über Pablo Picasso, der vermutlich als zumindest ein Bezugspunkt herhält, zu informieren, der wird die Parallelen schnell sehen: Großes Talent, am Anfang eher konventionelle Herangehensweise, dann zunehmender Bruch mit allen Regeln und Vereinbarungen und pure, ungebremste Kreativität, die nicht gefallen will und gerade deshalb so vielen gefällt. Außerdem: Großes Ego, großer sexueller Appetit, großer Hang zu sog. schlechtem Benehmen – nur, dass das – und damit sind wir wieder beim Einstieg der Review – bei einem Menschen mit dunkler Hautfarbe natürlich völlig anders gewichtet und gewertet wird.
Um es noch mal auf den Punkt zu bringen: „The Life Of Pablo“ ist komplex, vielschichtig, vielstimmig, vulgär und visionär, hochtrabend, anmaßend und anspruchsvoll, kurzum genial. Punkt. Nein – Ausrufezeichen! 30 von 10.