Manche Filme erschließen sich einem erst am Ende. Immer wieder gibt es Situationen, die einen verwirren und erst zum Schluss aufgeklärt werden. Und auch nachdem der Film vorbei ist, geht er einem nicht aus dem Kopf. Um ihn richtig zu verstehen sieht man ihn sich immer und immer wieder an. Bei jedem Sehen fallen einem weitere Zusammenhänge und Details auf. Nach und nach ergibt alles einen Sinn. So ähnlich geht es mir mit Kendrick Lamars dritten Studioalbum „To Pimp a Butterfly„.
Die im Vorfeld veröffentlichten Songs „i„, „The Blacker The Berry“ und „King Kunta“ machten bereits klar, dass sein neues Album weniger konkret das Leben in der Hood beschreibt als der Vorgänger „Good Kid, M.a.a.d. City„. Thematisch geht der Mann aus Compton weit darüber hinaus. So nehmen politische Themen, die afroamerikanische Geschichte und K-Dots Selbstreflektion über das Leben als erfolgreicher Rapper eine sehr große Rolle ein. Dazu kommt die Religion – zuletzt hatte sich Kendrick diesbezüglich sogar als „Gefäß Gottes“ bezeichnet.
Im Mittelpunkt des wohl meisterwarteten Albums des Jahres steht allerdings die afroamerikanische Identität. Passend zu diesem Zentralaspekt des Albums bedient sich Kendrick Lamar großflächig an Funk- und Jazz für seine Beats. Musikrichtungen also, die ähnlich wie HipHop ihren Ursprung in der afroamerikanischen Kultur haben. Jeder Song hat seinen festen Platz im Album und baut auf den anderen auf. Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht. „To Pimp A Butterfly“ ist ein Kaleidoskop, das so viele Anspielungen und Bezüge aufweist, dass es unmöglich ist, allen Fäden hier zu folgen. Ich beschränke mich daher auf eine Spurensuche.
Bereits beim ersten Hören sticht das Interlude „For Free“ ins Ohr. Im Stile eines Spoken Word-Poeten flowt Lamar hier passgenau und scheinbar ohne Luft zu holen auf klassischen Jazzbreaks. Für seinen Flow ist der Künstler aus Compton durchaus berüchtigt, hier packt er noch mal einen drauf. Die anaphorische Verwendung des Ausrufes „This dick ain’t free“ macht dem Hörer klar, dass sein Gemächt nicht gratis ist. Interesse entsteht zudem durch die Unnatürlichkeit, die besagter Ausruf in Verbindung mit dem Jazzinstrumental auslöst. Dass der einleitende Streit mit einer jungen Dame dem Song nur als Metapher dient wird, schnell klar:
„Hell fuckin‘ naw, this dick ain’t free
I need forty acres and a mule
Not a forty ounce and a pitbull“
Eine Anspielung auf die 40 Acre (etwa 16 Hektar) Land und das Maultier, das den befreiten Sklaven nach dem amerikanischen Bürgerkrieg als Lebensgrundlage dienen sollten. Das stattdessen vorhandene 40oz Bier, sowie der Pitbul sind Stereotype des amerikanischen Ghettolebens. Die letzten Zeilen des Songs spitzen diese Aussagen zu:
„Oh America, you bad bitch, I the picked cotton that made you rich
Now my dick ain’t free.“
Die Frau, mit der sich Kendrick Lamar streitet, ist also das Land, Amerika. Die besagte Baumwolle wurde früher von Sklaven auf den Plantagen in den Südstaaten gepflückt und entwickelte sich zum wichtigsten Exportgut der Region. Genau dort, wo Anfang des 20. Jahrhunderts auch der Jazz seinen Ursprung hatte. Dieser wiederum bildet die musikalische Grundlage des Songs. Der Kreis schließt sich also.
„I’mma get my Uncle Sam to fuck you up. You ain’t no king“, antwortet Amerika Kendrick auf seine letzten Worte im Song. Er ist dem Land als schwarzer, erfolgreicher Künstler nur dann von Nutzen, wenn er konsumiert. Ansonsten greift „Uncle Sam“ ein.
Das Gegenstück zu „For Free“ ist das zweite Interlude „For Sale“ und handelt von den Verführungen des Teufels, um an seine Seele zu kommen. Es ist nicht das einzige Gegensatzpaar des Albums. Das Antonym der lebensfrohen Single „i“ ist der melancholische Song „u„, indem sich Kendrick Lamar mit den eigenen negativen Gedanken, Empfindungen und Erlebnissen beschäftigt, seitdem er berühmt ist. Die verschiedenen Stimmungen erzeugt Lamar nicht nur durch den jeweiligen Beat, sondern durch gezielten Einsatz seiner variablen Stimme.
Ein Gegensatz in sich ist auch der Titel des zuletzt veröffentlichten Songs „King Kunta„. Kunta Kinte nämlich ist der Protagonist aus Alex Haleys Roman „Roots„, das auch als Fernsehserie verfilmt wurde. Ein schwarzer Sklave im Amerika des 18. Jahrhunderts, dessen Geschichte von Schicksalsschlägen geprägt ist. So wird ihm nach seinem zweiten Fluchtversuch ein Teil seines Fußes abgetrennt. Er ist also alles andere als ein King. Denkbar ist, dass sich Kendrick selbst in seiner Rolle als einer der einflussreichsten schwarzen Musiker der Moderne als „King Kunta“ sieht. Paradox: Ein König, der unterdrückt wird.
Literarischen Bezug hat nicht nur dieser Song des Albums. Auch der Song „The Blacker The Berry“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Wallace Thurman. Es geht um Rassismus von Schwarzen untereinander. Die Thematik hatte Tupac Shakur in seinem Song „Keep Ya Head Up“ bereits 1993 behandelt.
Tupac gilt als größter Einfluss Lamars. Das sagt er selbst. Deshalb ist der letzte Song des Albums, „Mortal Man“ auch unglaublich interessant. Wenn Kendrick Lamar in besagtem Song Bezug auf schwarze Aktivisten wie Martin Luther King und Nelson Mandela nimmt und seine Zeit als begrenzt sieht, um eine ähnliche Stellung für die „Black Power“ einzunehmen, gerät das Musikalische hier beinahe in den Hintergrund. Obgleich der Song stark ist. Grund dafür ist ein inszeniertes Interview Lamars mit Tupac. Dafür bedient sich Kendrick bei Aussagen Tupacs, die dieser in einem Interview in der schwedischen Radioshow „P3 Soul“ kurz vor seinem Tod tätigte. Ein echter Gänsehautmoment.
Das Interview beginnt mit einem Gedicht, dessen Zeilen bereits zuvor fragmentarisch am Ende einiger Songs genannt wurden. Die Message: Schwarze sollten sich nicht untereinander bekämpfen, sondern einander respektieren und zusammenstehen. Daraufhin befragt Lamar Tupac zu seiner Einstellung zum Rapgame, sowie Reichtum, den man als erfolgreicher Musiker erhält und der aus dem Erfolg resultierenden Verantwortung für die Gesellschaft.
Zum Schluss erklärt er Tupac, sowie dem Hörer den Sinn hinter dem Albumtitel „To Pimp a Butterfly„. Beeinflusst wurde Kendrick diesbezüglich durch die Worte eines Freundes über Kendricks Welt. Dieser beschreibt die konsumfokussierte Raupe als Hörerschaft. Der Kokon symbolisiert das System, dass die einfachen Konsumenten einsperrt. Durch diesen Freiheitsentzug entstehen jedoch Ideen, sich gegen das System zu wehren. Aus der Idee wachsen Flügel und der Schmetterling geht aus dem Kokon hervor. Er steht für die erfolgreichen Rapper. Die Raupe hat einen Weg gefunden, den Schmetterling zur eigenen Nutzenmaximierung zu pimpen. Noch ein Paradoxon: Raupe und Schmetterling unterscheiden sich sehr voneinander und sind dennoch ein und dasselbe Wesen.
Und das war nur ein Bruchteil dessen, was auf dem Album passiert. „To Pimp a Butterfly“ ist schlichtweg genial. Trotz des schweren Inhalts und dem Fakt, dass das Album von vorne bis hinten genau konzipiert ist, wirkt es zu keinem Zeitpunkt aufgezwungen oder aufgesetzt. Es ist echt. Beim Hören fühlt man die Emotionen, die in den Songs stecken. Unter anderem deshalb, weil sich die Songs an keine mathematisch berechenbaren Standardstrukturen halten. Als Featuregäste vertreten sind Könner ihres Fachs wie George Clinton, Thundercat, Bilal, Anna Wise, Snoop Dogg, James Fauntleroy, Ronald Isley, Rapsody und Assassin.
Kendrick Lamar hat etwas geschaffen, was im Mainstream-Rap sonst sehr schwer zu finden ist. Ein schlüssiger, tiefgreifender und sehr detaillierter Inhalt in Verbindung mit starken, außergewöhnlichen Beats und Lamars unglaublichen Talent, sinnvolle, bewegende Geschichten mit einem unglaublichen Flow zu präsentieren. Um das komplexe Album in seiner Gesamtheit zu verstehen, benötigt es Zeit. Fühlen kann man es aber sofort.