Crystal F – Narben (Review)

Du hast einen starken Magen und bist mental belastbar? Nein? Dann hör dir „Narben“ nicht an! Für dich endet diese Review hier. Lautet deine Antwort aber „Ja“, nimmt Crystal F dich mit auf eine authentische Reise in den Kopf eines gestörten Stalkers, Sadisten und Mörders. Da „Narben“ aber eine durchgängige Geschichte erzählt, wird diese Review weitgehend spoilerfrei bleiben und auf inhaltliche Details verzichten.

Die dichte Atmosphäre wird bereits mit den treffenden Worten „Das ist keine von diesen Geschichten, nach denen du einfach ins Bett gehst und beruhigt einschlafen kannst“ im eigens eingesprochenen „Vorwort“ beschworen, darauf folgen die Songs „Willkommen Zuhause“ und „Mörder“, die eine Art Psychopathen-Representer darstellen und lediglich lose den Protagonisten vorstellen. Der schwerfällige, mechanisch scheppernde Beat von „Mörder“ stellt dabei gleich eines der soundtechnischen Highlights dar. Dann geht es ans Eingemachte: Auf „Hunger“ erzählt das lyrische Ich – von dem man in diesem Fall tatsächlich sprechen sollte – von seiner Kindheit. Schon früh entdeckte er seine sadistischen Neigungen, so folterte und tötete er bereits in jungen Jahren Tiere. Die erschreckend detaillierten Schilderungen gehen unter die Haut, wie die Nägel, die in Kleintiere hineingetrieben werden.

Überhaupt gibt es einige Einblicke in Vergangenheit und Psyche des Jägers, wie er sich selbst nennt. Authentisch wird aus der ersten Person aufgearbeitet, wie dieser kranke Verstand zu dem geformt wurde, was er ist. Die Geschichte, deren Schwerpunkt das letzte Drittel des Albums darstellt, wird anschaulich und packend erzählt, und wartet mit einem überraschenden und nicht minder bösartigen Plottwist auf – mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

Einige Songs fallen aber auch aus Rahmen, passen zwar zum Charakter, sind aber nicht in Handlung oder Vorgeschichte eingewoben. So etwa „Sadist3ntr3ff 3„, auf dem mit Swiss, Basti von Trailerpark und Tamas die eigene Skrupellosigkeit mit bewussten Tabubrüchen zelebriert wird. Da werden Teenies mit Klingendildos vergewaltigt, Polizistenkinder geschlachtet und natürlich auf die eigene Kunstfreiheit verwiesen.

Vor der Tür“ mit Crystal Fs Ruffiction-Kollegen Crack Claus und Arbok 48 – mehr Features gibt es übrigens nicht – stellt eines der Highlights dar: Das Trio schildert jeweils die eigene kriminelle Tätigkeit und deren geniale Verschleierung – Crack Claus, der als Drogendealer seinen Stoff bunkert und über anonyme Konten Gelder verschiebt, Arbok, der als Sprayer seine Fotos und Sketches verschlüsselt auf Servern sichert und Crystal, der als Serienmörder jegliche Spur zu verwischen weiß. In der Hook „Stehen die Bullen vor der Tür“, für sie gibt es aber nichts zu holen.

Diese Tracks brechen aber keineswegs mit der packenden Atmosphäre, für die sich auch 7Inch auf die Schulter klopfen kann, der das ganze Album produziert hat. Ein einheitlicher, angespannter, aber nicht Hektischer Sound durchzieht „Narben“. Unbehagliche Klavieranschläge, verzerrte Synthie- und Bassspuren und behäbige Drums tauchen immer wieder auf und verdichten die einzelnen Songs zu einem zusammenhängenden Soundteppich. Sowohl Inhalt als auch Klangkulisse sind also stets zusammenhängend und schmiegen sich außerdem hervorragend aneinander.

Narben“ ist kein Album, in das man mal reinhört oder aus dem man die drei besten Tracks in seine Playlist zieht. Auch keines, das man nur einmal anhört. Es wird eine verstörende Geschichte erzählt, die auch gestandenen Männern einen Kloß in den Hals treibt. Eindrücke aus der Vergangenheit des Protagonisten geben einen Einblick in seinen kaputten Verstand und lassen kein einfaches gut-und-böse Bild zu – auch wenn das alles zuweilen etwas edgy sein mag. Das mitgelieferte Hörbuch erzählt dieselbe Geschichte noch einmal im Detail – übrigens gelesen von Crystal F selbst – und gewährt einen etwas anderen Blickwinkel. So wird aus der dritten Person erzählt, statt, bis auf wenige Ausnahmen in der Erzählperspektive, aus Sicht des Täters. Sich bereits aus dem Album bekannte Eckpfeiler und Geschehnisse noch einmal detailliert aufgearbeitet zu Gemüte zu führen fesselt – und das erste „Narben“-Hörerlebnis nach dem Hörbuch ist wieder ein ganz neues. So geht Film in Musikform!