SSIO hat genau ein Problem: Sein Debütalbum „BB.U.M.SS.N“ war nahezu perfekt. Von dieser Tatsache habe ich mich bei der Vorbereitung dieser Review noch mal rasch überzeugt. Kein einziger Ausfall. Starke Beats, starke Raps, beste Attitüde und dabei sogar noch sympathisch. Einfach unschlagbar. Und genau da sind wir beim Problem: Wie soll man etwas so gutes noch mal steigern, wie noch mal eine Schippe drauflegen? Klar, es steht nirgends geschrieben, dass das überhaupt verpflichtend ist, aber Tatsache ist, dass sowohl Fans wie Kritiker genau das trotz alledem erwarten.
Wie geht SSIO mit diesem Umstand um? Locker. Zum Glück sieht er davon ab, an seiner Erfolgsformel krampfhaft etwas zu ändern, nur um es der besagten unangemessenen Anspruchshaltung von Fans und Kritikern recht zu machen. So ist „0,9“ kein Album, mit dem sich der Bonner neu definiert oder gar erfindet. Nö. Sondern eine konsequente Fortsetzung dessen, was auf dem Debütalbum und dem Mixtape davor schon so prächtig funktioniert hat: Eine einzigartige Mischung aus Straßenticker-Stories, Pumper-Lifestyle, Gras-Huldigung, Sex-Sucht und eigensinnigem Humor auf Trademark-Beats von Reaf. Der Haus- und Hofproduzent von Alles oder Nix hat dieses Mal alle Beats produziert, was der Stringenz von „0,9“ noch mehr zugute kommt.
„Scheiß mal auf Themenwechsel
Festival-MCs haben Hautfarbe wie Käsespätzle“ („Hör dir nicht dieses Lied an“ )
Das Wichtigste aber ist und bleibt, dass Deutschraps schönste Nase es nach wie vor „Mit Herz“ macht, wie er selbst betont. Man kann das Grinsen in SSIOs Mundwinkeln förmlich aus Zeilen wie „Illegalen Handel treiben bringt lange Aktenzeichen / Deutsche Rapper riechen nach Bananenweizen“ heraushören – kann halt auch echt nicht jeder so eine Line bringen, ohne dass es peinlich klingt. Bei SSIO ist aber absolut nichts peinlich. Im Gegenteil – selten so wenig Fremdscham auf einem Deutschrap-Album erlebt. Das liegt schlicht daran, dass SSIO seine Stärken ganz genau kennt und dankenswerterweise darauf verzichtet, sich an Themen zu verheben, die seine Kollegen eh schon regelmäßig vergeigen. Weltschmerz, Politik, tagebuchgerechte Gefühlsausbrüche – all das findet auf „0,9“ nicht statt und es gibt niemanden, der bei klarem Verstand ist und das ernsthaft vermisst.
„Komm im 7er mit Speichenfelgen
Umgeben von Leuten, die mir beim Aussteigen helfen
Im Hugo-Boss-Hemd zwischen Club, Bars und Pubs
Nur der unterste Knopf zu, weil ich Brusthaare hab, Nuttööö“ („Mit Herz“ )
Wenn man sich das hier so durchliest, klingt das monoton und primitiv – und ist doch beides keineswegs. Das letztere vermeidet die richtige Dosis Selbstironie und Augenzwinkern, die klarmacht, dass man es hier mit einer gesunden Ladung Übertreibung des Mackertums zu tun hat. Und das erstere wird nicht nur durch hervorragende Beats mit Westcoast-Swing und Eastcoast-Bums verhindert, sondern auch durch die jedes Mal aufs Neue originelle Umsetzung der einschlägigen Themen. Nicht mal die Trademark-Slogans „Ja ja“ oder „Nuttööö“ werden einem langweilig, weil SSIO es versteht, sie jedes Mal an der richtigen Stelle zu setzen anstatt sie einfach wahllos einzustreuen.
Auch die Features sind bestens ausgesucht: Mit Haftbefehl wird auf „Pibissstrahlen auf 808 Bässe“ der erste dokumentierte Ausflug Richtung Trap unternommen, wird es mit Schwesta Ewa dagegen klassisch und rotbeleuchtet gehalten („Bitte keine Anzeige machen“ ). An Kalim wird man wohl auch noch viel Freude haben und zu Xatar muss man jetzt nicht mehr viele Worte verlieren. Meinen persönlichen Höhepunkt auf „0,9“ bestreitet SSIO aber ganz alleine: „Hör dir nicht dieses Lied an“ gleitet so geschmeidig in den Gehörgang wie ein tiefliegender Sportwagen den Sunset Boulevard entlang. Die im Titel enthaltene Aufforderung kann man getrost ignorieren.
Und mit dem letzten Song „Nullkommaeins“ gibt es dann noch eine lässige Parodie auf das ausgelutschte „Was wäre wenn?“ – Ding – perfekter Abschluss eines, wie soll man es anders sagen, rundum runden Albums. Wenn alle deutschen Rapper auf derart lässige und gleichzeitig gekonnte Art und Weise Alben aufnähmen, wären Reviews in Zukunft überflüssig.