Review: Fler – Colucci

Klassische Reviews, die akribisch Track für Track, Zeile für Zeile, Wort für Wort auseinandernehmen, sind spätestens seit dem ersten Streaming-Gold nicht mehr zeitgemäß. Es geht heute um den Vibe, die Atmosphäre, das gelungene Zusammenspiel der einzelnen Elemente, das sich fernab vom Beherrschen der jeweiligen Einzelteile abspielt. Da kommt mir „Colucci“, das neue Album von Fler, der sich selbst die Messlatte mit dem Vor-Vorgänger „Vibe“ sehr hoch gelegt hat, gerade recht.

Gefühle auf der Zunge

Mit seinen bis dato 15 Solo-Alben sorgte Fler immer wieder für Hypes, die danach zum Zeitgeist und in der Rückschau zum Auslöser nostalgischer Gefühle wurden. Sein Erfolgsrezept: Er trägt bis heute seine Gefühlswelt stets auf der Zunge. Das kann man in jeder Zeile, in jedem Wort, in jeder Sekunde heraushören. Die Zeit rund um „Colucci“ ist tatsächlich eine Neue für ihn. Man könnte fast schon von „angekommen“ sprechen. Angekommen bei sich selbst, bei seinen Kollegen, bei seiner Fangemeinde. Es sei ihm gegönnt, aber wie kann ich mir „Colucci“ nun konkret vorstellen?

Zwischen Thermometer-Siedlung und Ku’damm

Seine Vision eines zeitgemäßen Sounds mit genug Authentizität und Eigenständigkeit ist seit 2012/2013 die gleiche, wurde aber von Release zu Release perfektioniert und an sein jeweiliges Ich angepasst. Immer irgendwo zwischen Thermometersiedlung und dem Ku’damm, nicht reinkommen in den Club und Magnum-Champagner-Flaschen im 808. Auch „Colucci“ fährt diesen Film aus schwermütigen Moll-Melodien, kombiniert mit den heutzutage üblichen vollsynthetisch cleanen Drums. Nur wird das Ganze hier viel konsequenter und radikaler umgesetzt als bisher.

Dichte Atmosphäre, latent aggressiv

Das Ergebnis ist eine neue Grundstimmung, die aber weiter auf dieser dunkelgrauen, latent aggressiven Atmo basiert, die ihm 2002 den ersten Hype bescherte. Bis auf ein bis zwei Ausreißer sind das alles Bretter! Hervorzuheben sind hier „Jedes Gramm“ und der „Vom Bordstein bis zur Skyline“-Flashback „Respektlose Jungs“ mit Farid Bang, das 16 Jahre später endlich die richtigen Drums hat. Auch Mosenus verrückte Adlibs passen perfekt. Generell machen die Adlibs „Drip“, „Keyless Go“ und „Sex Money Murder“ zu den herausragenden Tracks.

Bis dato ist das Flers dichtestes Album. Auf „Colucci“ geben die Samples den Ton an und das viel stärker als auf „Flizzy“ oder „Vibe“. „Colucci“ bietet für CCN-sozialisierte Hörer wie mich genug Platz für Arroganz und Aggression. Das einzige, was mich dabei stört: Die Formel, die hier perfektioniert wurde, ist nicht neu. Unbewusst erwarte ich von Fler aber, dass er sich mit jedem Album ein Stück neu erfindet. Und auch wenn diese Erwartungshaltung vielleicht unfair oder überzogen ist: Er hat sie mit seinen vielen Neuerfindungen selbst bei mir geweckt.

Bleibt noch die Frage: Sollte man Colucci-Klamotten heute aus nostalgischen Gründen oder als 2019er Fashion Must-haves tragen? Ganz genau kann ich das auch nicht sagen. Beides ist möglich.