„Die Sonne scheint Gold, die Sterne Platin“. Noch während der Hype um das Kollabo-Projekt „Palmen aus Plastik“ mit Bonez MC und die gemeinsamen Touren mit der derzeit wohl freshsten Bande des Landes jeden erdenklichen Rahmen seiner Gattung gesprengt haben, hat sich RAF Camora schon wieder aus dem Blitzlicht geschlichen, in sein Studio verkrochen und alle Regler auf Null gedreht, um fokussiert ein neues Soloprojekt in Angriff zu nehmen. Mit „Anthrazit“ erscheint damit, fast exakt ein Jahr nach „Palmen aus Plastik“, das mittlerweile fünfte Soloalbum Camoras, diesmal wieder über sein eigenes Label Independenza.
Wer an dieser Stelle denkt, dass die Ausgangssituation für den Österreicher eigentlich nicht dankbarer hätte sein können, hat bezüglich seiner derzeitigen Reichweite und mutmaßlicher Verkaufszahlen zwar offensichtlich recht, befindet sich aber dennoch auf dem Holzweg. Der Druck auf RAFs Schultern dürfte diesmal einige Zentner schwerer wiegen, als bei jedem vorherigen Release: Nicht nur, dass er hiermit beweisen muss, dass er dazu im Stande ist, sein zuletzt enorm hoch gestecktes Level zu halten. Vor allem gilt es mit dieser Platte zu zeigen, dass er es unabhängig von den gemeinsamen Projekten mit der Strassenbande auch schafft, im Alleingang standhaft zu bleiben und mit seiner Einzigartigkeit aufzutrumpfen. Kein einfaches Los also.
Zum Glück hat RAF seine „Raben im Rücken“, die ihn über seine Karriere hinweg begleitetet haben. Dafür zollt er ihnen auf der Scheibe ausgiebig Tribut: Schon der Titel des Albums zitiert ihre Kopffarbe, das Cover ziert ebenfalls ein erhabener Kräher und selbst die Farbe vom Lack seines Sportwagens, der in mehreren Video-Auskopplungen triumphierend durchs Bild heizt, nimmt Bezug auf das Federkleid seines selbstgewählten Wappentieres.
Auch durch den Track „Alles probiert“, dem Herzstück der Platte, zieht sich konsequent das Motiv des Rabens. Eindringlich beschreibt Camora hier rückblickend den harten Weg vom Jobcenter bis vor die Pforten des Echos, bringt hierbei sowohl die jahrelange Verzweiflung eines unterschätzen Künstlers, als auch die Euphorie des mittlerweile gefeierten Superstars überzeugend auf den Punkt. Und so ist man selbst felsenfest davon überzeugt, dass die ganze Geschichte einen tiefen Sinn ergibt und sich einfach alle Zirkel schließen, wenn RAF am Ende des Liedes: „Es hat funktioniert!“ schmettert.
Ein sich ebenfalls stets wiederholendes Leitmotiv auf dem Album ist der Bezug zu seiner Heimatstadt Wien. Mehr denn je macht RAF deutlich, dass er sich als Krieger im Namen der Mozartstadt begreift, eröffnet das Album gar symbolträchtig mit einer am sie gerichteten Ode. „Meine Stadt, meine Liebe, mein Hass, mein Vienna“ heißt es da. Es scheint Camora ein ernsthaftes Anliegen zu sein, detailreiche Einblicke auf die eigenen historischen Wurzeln zu vermitteln und dadurch seine Identität für Außenstehende transparenter zu machen.
Und so erzählt er ausdrucksstark vom harten und doch herzhaften Ton in den Gassen des Wiener Westens und von den Frauen, Etablissements und Straßen seines Bezirkes; einem Viertel, das maßgeblich von den Einwanderern aus dem Balkangebiet bewohnt ist. Diese Prägung seinerseits hat RAF wiederum hörbar in den eigens kreierten Sound umgemünzt: Zwischen karibisch anmutenden Reggaeton-Takten und im arabischen Raum üblichen Melodien sind in ihm durchaus auch Balkan-typische Einflüsse zu erkennen.
RAF hat seinen Sound für „Anthrazit“ zwar noch klarer definiert, die Art des musikalischen Unterbaus seiner flexiblen Stimme hat aber trotzdem bei weitem keine 180-Grad-Drehung gemacht. Gerade weil erst „Palmen aus Plastik“, wie jetzt auf „Anthrazit“ erwähnt, die „Gangster“ zum „Tanzen auf westafrikanischen Samples“ gebracht hat, muss umso deutlicher festgehalten werden, dass Camora diesen Sound auch schon Jahre vor der Zusammenarbeit mit Bonez in akribischer Feinarbeit produziert hat. Er war einer der ersten, der deutschsprachigen Rap mit Dancehall- und Reggaeton-Rhythmik zusammengeführt hat und nähert sich seitdem immer weiter erfolgreich der Vision eines unverkennbaren Sounds an. Sogar der Einfluss des heute so populären Afro-Traps mit französischen Wurzeln ist schon auf den Releases zu finden, die Camora noch in seiner Zeit als RAF 3.0 veröffentlichte.
Neben Camora selbst haben sich zwar offiziell auch Beataura, X-plosive und Hamudi an der Produktion von „Anthrazit“ beteiligt. Dennoch ist spürbar, dass keiner der Beats nicht noch wenigstens oberflächlich von RAF persönlich überarbeitet und ins gewollte Gesamtkonzept eingegliedert wurde. Über das gesamte Projekt hinweg fällt auf, dass man es mit einem absoluten Nerd zu tun hat – im besten Sinne. Einem ehrgeizigen Perfektionisten, dessen einzige negative Eigenschaft höchstens die ist, dass an der einen oder anderen Stelle die verspielte Lockerheit fehlt.
Der Sound der Platte bewegt sich, wie Camoras Figur selbst, irgendwo zwischen Ghetto und Hochglanz, zwischen Cornern mit kroatischen Spitzbuben am Kiosk und Aftershowparty mit Upperclass-Chicas im voll verglasten Loft. RAF liefert feinsten, meist auffallend melodischen Dancehall, der nicht selten Raum für Offbeat-Passagen lässt. In Kombination mit den häufig durch Autotune verfeinerten und durch spannende Längen und Brüche, ausgeschmückt mit gesangsartigen Raps, entsteht ein spannende Abwechslung. Die lang gezogenen, fast flehend wirkenden Gesangsparts können als Hommage an RAFs Mutter gedeutet werden, die schon vor vielen Jahren als Opernsängerin in Neapel von sich Reden machte. Ihr ist der Track „Donna Imma“ gewidmet.
Auch wenn dieses Problem im eben genannten Track nicht zu Tage tritt, werden die Texte der Parts der epischen Attitüde der Beats an einigen Stellen nicht gerecht. So kommen die eher austauschbaren Lyrics im musikalisch hochwertigsten Track des Albums, dem Gentleman-Feature „Roots“ bei weitem nicht auf das soundmäßige Level. Camoras sehr eigene Erzählweise ist, ähnlich wie sein Humor, zwar ein klassischer Fall für die Geschmackssache-Keule, ist an sich aber, solange der jeweilige Song ein klares Thema hat, durchaus unterhaltsam.
Durchaus unterhaltsam und gleichzeitig ein nicht anfechtbarer Beweis für RAFs hohes Ansehen in der deutschen Rap-Oberschicht ist auch die Ansammlung der Gäste auf „Anthrazit“: Neben der eben erwähnten Gentleman-Hook sind nicht nur Parts der eng befreundenden 187-Vertreter Bonez, Gzuz und Maxwell vorhanden, sondern auch Beiträge von Kontra K, Ufo361 und KC Rebell.
„Anthrazit“ ist im Prinzip die Krönung der steinigen und facettenreichen Reise eines Vollblutmusiker. Nachdem „2016 zerfetzt“ wurde, legt RAF Camora nun erneut ein Album vor, auf dem fast jeder Track Hit-Potential hat. Mit dem feinen Unterschied, dass er dies diesmal im Alleingang erarbeitet hat. „Anthrazit“ beweist durch seinen Grundtenor und Sound eindrucksvoll, welch hohen Einfluss der Wahlberliner innerhalb des letzten Jahres auf die 187 Straßenbande gehabt haben muss. Während sich außerdem einige auf dem letzten Soloalbum „Ghøst“ eröffnete Kreise sinnig schließen, lässt sich RAF den immens hohen Druck, der mit diesem Projekt einher ging, nicht im Ansatz anmerken. Vielleicht hört es sich genau deswegen gar nicht so abwegig an, wenn er spittet, dass er der „größte Artist Wiens seit Falco“ sei.
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