Nicht nur eine, nein, gleich zwei Reviews haben wir für Marterias neues Album „Roswell“ anzubieten. Nicht im Dialog-Stil, sondern jede für sich. Nicht Pro und Contra, sondern Tag und Nacht.
Tag:
Mit Marteria ist das ja immer so eine Sache – nicht nur Rap-Nerds stecken seine Musik dank Singles wie „Lila Wolken“ oder „OMG“ gern in die Pop-Schublade. Für die ganz breite Masse waren allerdings immer nur ausgewählte Tracks geeignet – und so schwebte der „Zum Glück in die Zukunft“-Zweiteiler immer in einer undefinierten Sphäre zwischen Mainstream und Marterias tief verwurzelter HipHop-Affinität.
„Roswell“ scheint sich irgendwie von seinen beiden Vorgängern abzugrenzen. Nicht nur, dass das Album eben nicht „Zum Glück in die Zukunft 3“ heißt: in Interviews offenbarte Marteria, dass er keine Drogen mehr nimmt, sich aus Berlin zurückgezogen hat und sich die Nächte statt in Clubs jetzt an deutschen Angelspots um die Ohren schlägt. Diese Entwicklung sollte eigentlich auch auf „Roswell“ zu hören sein – ist sie auch, allerdings nicht beim ersten Hören.
Wer Marterias jüngstes Werk nämlich nur mal schnell in der U-Bahn über seine Kopfhörer laufen lässt, wird diese Veränderung kaum bemerken. Die prägnantesten Merkmale, durch die sich ein Marteria-Album auszeichnet – nämlich die Hits – sind im selben Maße vorhanden wie auf „Roswells“ Vorgängern. Mit „Das Geld muss weg“, „Scotty beam mich hoch“ und „Cadillac“ erfüllt Marteria bereits die Erwartungen der Fans, die er mit Songs wie zum Beispiel „Kids“ in den Bann gezogen hat.
Aber auch die HipHop-Conaisseure kommen auf ihre Kosten, denn auch wenn es sehr gern überhört wird: neben den oben genannten Ohrwurm-Garanten versammelt Marteria eben auch noch ausgetüftelte Kettenreime, ausgefeilte Lyrics, klassische HipHop-Beats und saubere Rap-Skills. Außerdem beherrscht er es wie kein zweiter im Deutschrapgame, den perfekten Spannungsbogen zu erzeugen.
Marterias musikalische Weiterentwicklung findet jedoch weniger durch die Ausgestaltung seines Sounds statt. Da auch „Roswell“ genau wie seine Vorgänger von The Krauts produziert wurde, erfindet Marten aka Marteria auf seiner neuen Platte das Rad nicht neu, schafft aber zum ersten Mal einen Spagat zwischen dem klassischen Marteria-Sound und dem seines alten Egos Marsimoto – zum Beispiel durch futuristisch klingende Soundelemente wie auf „Alien“ und „Roswell“. Manchmal wären ein paar mehr Ecken und Kanten mehr allerdings wünschenswert.
Dafür ist die Veränderung des Rostockers, der Teile seiner Jugend als Model in New York verbracht hat, in seinen Texten zu erkennen. Auf „Das Geld muss weg“ und „Blue Marlin“ übt Marteria Gesellschaftskritik und in „Zwei Türme“ rechnet er mit seiner Vergangenheit in Amerika ab, und zwar mit einer beispiellosen Raffinesse auf mehreren Ebenen – und eben in Form eines relativ klassischen Rapsongs.
Marteria liefert also immer noch Hits und kann trotz seines Erfolges auf kommerzieller Ebene noch rappen wie auf „Base Ventura“ – aber er ist erwachsener geworden und vermutlich spielt nicht zuletzt sein privater Lebenswandel eine Rolle, wenn man über die Veränderung seiner Texte spricht. Marteria erfindet sich auf „Roswell“ nicht neu – aber das muss ein Künstler seiner Größe auch gar nicht. Er beherrscht es nämlich wie kein anderer, so unverkrampft die Brücke zwischen Hiphop und Charterfolg zu schlagen. (Celine Schaefer)
Nacht:
Die Leiden des jungen Marterias sind leicht erklärt: „Zum Glück in die Zukunft“ war nahezu perfekt. Vom Zeitpunkt des Releases über die Tracks bis zur Vermarktung – besser geht’s kaum. Anstatt sich dann dem schwierigen Nachfolger zu stellen, hat er sich vor drei Jahren bewusst dazu entschieden, einen zweiten Teil davon zu produzieren, der sich in allen Belangen am Vorgänger orientierte. Nun also „Roswell“. Und auch wenn man Marteria eigentlich nur lieben kann – Tatsache ist, dass sowohl Fans wie Kritiker von ihm erwarten, dass er nun noch einmal eine Schippe drauflegt.
Aus rein musikalischer Sicht haben The Krauts dem Album – wie zu erwarten- wieder ihren Trademark-Sound aufgedrückt und gleichzeitig neue Gefilde mit Marteria beschritten. Das beginnt direkt beim einleitenden „Roswell“, dessen Beat uns gleich so heftig direkt vor die Füße einschlägt, dass man auf eine Begrüßung von Marsimoto hofft.
Die anschließenden „Aliens“ und „Scotty Beam Mich Hoch“ klingen wie bei einem Release namens „Roswell“ zu erwarten, schön spacig. Wobei es weniger wie ein befremdlicher Film wie „Extraterrestrial“, sondern mehr wie eine familientaugliche TV-Serie à la „Alf“ rüberkommt.
Mit „Große Brüder“ und „Elfenbein“ gibt es gegen Ende dann auch zwei Tracks, die einem dieses sehnsüchtige Gefühl geben, so wie es nur Marteria kann. Dass ich in treibenden Keys und zurückgelehnten Snares sowie der Art und Weise wie flächig das Instrumentals in den Hooks aufbricht, Parallelen zu „Lila Wolken“ sehe, ist dabei eher ein netter Nebeneffekt als störend.
Doch bei all diesen nicht allzu schwerwiegenden Veränderungen bin ich von der herrlich unverkopften Mitte des Albums und seinen Tracks „El Presidente“, „Cadillac“ und „Links“ mit Sample von Beyoncés „Irreplaceable“ angetan. Trotz der klassisch-schweren Krauts-Bassline untenrum baut der Vibe auf die Ausflüge in musikalisch leichtere Gefilde – irgendwo zwischen Jazz und Blues – auf und kommt wettertechnisch gerade richtig um als Soundtrack für die ansteigenden Temperaturen zu dienen. Das sperrige „Skyline mit zwei Türmen“ erinnert dank der dominanten Drums und trotz Aufarbeitung seiner Zeit in New York wohl am ehesten an einen reinen Rapsong und bildet gegen Ende einen schönen Kontrast zum Rest ohne dabei aus dem Rahmen zu fallen.
Trotz des breit aufgestellten Sounds ist und bleiben abstrakt-bildhaften wie lebensnahen Lyrics das Besondere auf Marterias Alben. Marteria ist in dieser Hinsicht wohl der normalste Ausnahmekünstler unserer Szene. Wie sonst kann es sein, dass alles was er macht, aus einer Momentaufnahme von seiner eigenen Gefühlswelt entsteht und sich trotzdem ausnahmslos jeder damit identifizieren kann?
Drei Jahre waren wohl genug Zeit um so viele Eindrücke zu sammeln, dass das Album gefühlt davon zu platzen droht. Dabei kommt die Rolle eines Außerirdischen gerade Recht um als Außenstehender auf uns zu blicken und sich mit dem Wahnsinn der Menschheit auseinanderzusetzen. Und wenn er einmal nicht durch die Augen eines Marsmenschen zu uns spricht, wird mit Gegensätzen gespielt um die Doppelmoral zu kritisieren („El Presidente“) und zwischen Höhenflug und Tiefenrausch auf „Tauchstation“ gegangen.
Auf „Blue Marlin“ hört man dieses große Talent wohl am deutlichsten heraus, wenn er sich in die weiten Meere des Atlantiks und Indopazifiks aufmacht um nach dieser Raubfischart zu suchen. Für was sie steht, bleibt wohl jedem selbst überlassen. Generell schafft er es, die Harmonie der erwähnten musikalisch leichten Kost nicht zu trüben, aber ihnen einen klar erkennbaren doppelten Boden mit etwas mehr Tiefgang mitzugeben. Dies bringt das Album in die angenehme Situation, dass man es auf zwei Arten hören kann: Entspannt nebenbei oder mit voller Aufmerksamkeit.
Und auch wenn auf den ersten Blick höchstens drei Track etwas mit dem Albumtitel zu tun haben, bleibt auf jedem Song irgendeine Art von Interpretationsspielraum übrig um einen roten Faden zu stricken. Einzig und allein „Große Brüder“ und „Skyline mit zwei Türmen“ sind eindeutig und konkret getextet. Marterias Erzählungen von seiner Kindheit lösen im Kopf automatisch schöne Erinnerungen und wundervolle Bilder aus. Die Zeiten, in denen das Schlimmste, was passieren konnte, eine Schelle vom Nachbar war, sind eben doch unvergesslich.
Insgesamt sind die von Marteria gezeichneten Bilder für meinen Geschmack aber nicht konzentriert genug bzw. der Schirm, unter dem alles zusammenkommt ist mir im Vergleich zu seinen letzten Alben nicht klar genug. Aus diesem Grund geht der sozialkritische Unterboden etwas verloren und viele Zeilen laufen inhaltlich ins Leere, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass es wohl nicht so ist. Böse Zungen würden hier von Phrasendrescherei sprechen, gerade wenn gängige Sprichwörter für einen Zweck adaptiert werden.
Betrachtet man das Album im Ganzen, hebt sich „Roswell“ insgesamt zu wenig von seinen Vorgängern ab. Wer mit den Erwartungen herangegangen ist ein Album zu bekommen, das voll von Oustanding-Tracks ist und trotzdem in sich schlüssig wirkt – so wie es auf den Alben zuvor war – wird nicht ganz bedient. Es ist zwar womöglich Marterias schlüssigstes, aber ist das genug, um zu begeistern? Ohne der große Marteria-Fan zu sein, sind mir drei Jahre nach „ZGidZ II“ und sechs Jahre nach „ZGidZ I“ jeweils mindestens die Hälfte der Albumtracks aufgrund ihrer Atmosphäre, Inputs, Konzeptes oder einfach wegen ihrem Titel im Kopf geblieben.
Den Tracks auf „Roswell“ mangelt es aus meiner Sicht an der Durchschlagskraft und dem gewissen Etwas. Alles ist für den Moment cool, spielt dank der Krauts und Marterias Songwriting auf einem durchweg hohen Niveau und Tracks wie „Aliens“, „Skyline mit zwei Türmen“ sowie vor allem das leichtfüßige „Links“ passen gut in Marterias Live-Show, aber „Roswell“ ist zu makellos und glatt um langfristig zu bleiben. Am Jahresende wird womöglich die Zusammenarbeit mit Specter, „antiMarteria“ und generell alles rund um „Roswell“ mehr im Gedächtnis bleiben als das Album selbst. (Gilbert Nagel)
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