Atmosphere

Ich bin nicht unbedingt ein Freund von Telefon-Interviews. Lieber sehe ich meinem Interviewpartner in die Augen, gestikuliere, versuche ihn mit Stimme und Körpersprache aus der Reserve zu locken, falls dies notwendig ist. Am Telefon hat man nur die Stimme. Das ist schwieriger. Wer weiß, was derjenige am anderen Ende der Leitung gerade macht, ob ihn etwas ablenkt, oder er gar droht am Telefon einzuschlafen. Als ich bei Slug, dem Rapper von Atmosphere, anrufe, ist es in Minneapolis 10 Uhr morgens. Eigentlich nicht wirklich früh, sondern eine gute Zeit. Leider hatte Slug die Nacht davor bis tief in die Nacht im Studio gearbeitet, so dass man in seiner Stimme das Gewicht seiner Augenlider beinahe fühlen kann. Er ist müde. Mir schwant nichts Gutes, das könnte ein kurzes Telefonat werden. Um es vorwegzunehmen, all meine schlimmen Erwartungen haben sich nicht erfüllt, und als erst einmal der Müdigkeitsschleier abgelegt war, was allerdings einige zähe Minuten dauerte, wurde es ein munteres Gespräch. Für viele steht bei dem Namen Atmosphere vor allem ein Gesicht im Vordergrund, das von Slug (Sean Daley), dem MC. Es soll auch einige geben, die ihn alleine für die Gruppe halten. Das liegt hauptsächlich daran, dass sein Freund und Partner, Ant, der die Tracks produziert, ein sehr zurückgezogen lebender Mensch ist 

Slug: Ant mag keine Menschen (lacht). Ich habe ihn 1993 kennengelernt, und zwar durch einen befreundeten Rapper mit dem Namen „Musab“. Er wollte, dass ich zu ihm rüberkomme, um einen Song aufzunehmen, und dabei traf ich auf Ant. Seitdem machen wir zusammen Musik.

rap.de: Das hört sich so an, als ob sich da Zwei gefunden hätten. Zwei, mit denen es sicherlich schwer ist zu arbeiten. Oder?

Slug: Auf jeden Fall. Bei mir ist es so, dass ich immer alles kontrollieren will, ich muss im Zentrum des Handlungsprozesses stehen. Ich glaube, bin ich ein total stereotyper Künstler, einer, mit dem niemand wirklich zu tun haben will, weil ich besoffen zur Aufnahme komme oder währenddessen auch mal einschlafe (lacht). So ein Typ bin ich.
rap.de: Und Ant ist das Gegenteil davon, deshalb kann er dich auch ertragen?

Slug: Genau. Er will das alles eigentlich gar nicht wissen, ihn interessiert nichts. Er will einfach nur Beats machen. Ant glaubt mehr an mich als irgendwer anderes. Er glaubt sogar mehr an mich, als ich selbst (lacht).
rap.de: Und das macht dir keine Angst?

Slug: Nein, nicht wirklich, mir ist das egal. Das ist doch toll!
rap.de: Kommen wir zu eurem aktuellen Album. Ich habe gelesen, dass „Seven´s Travels“ mal als ein Single-Projekt, bestehend aus vier oder fünf 7“es, veröffentlicht werden sollte.

Slug: Das stimmt. Ursprünglich war der Plan, ein Projekt über „Traveling“ zu starten und es in Form von mehreren 7“es zu veröffentlichen. Zu der Zeit habe ich nicht daran gedacht, dass sich dieses Projekt zu einem ganzen Album entwickeln könnte. Ich hatte auch erst acht Songs fertig. Aber auf der letzten Tour habe ich dann einige neue Lieder zu dem Thema geschrieben, so dass letztendlich genug Material zusammenkam, um ein ganzes Album draus zu machen
rap.de: Die Single „Cats Van Bags“, eure erste Auskopplung, was bedeutet das eigentlich?

Slug: Das ist einfach ein Witz, der auf unserer letzten Tour aufkam. Es ist so, dass unser Tourmanager eine Person ist, die schnell frustriert ist. Er hat also die ganze Zeit rumgeschrieen, wenn wir seiner Meinung nach mal wieder zu behäbig unterwegs waren: „Yo cats, gotta get in the van. Get your bags. C’mon, gotta go!“ Also haben wir uns einen Witz daraus gemacht, und so entstand „Cats Van Bags“.

 
rap.de: Im Grunde genommen waren alle Alben, die ihr bisher veröffentlicht habt, Konzeptalben. Sie beinhalteten meistens eine komplette Geschichte. Heute ist es oft so, dass sich viele Leute Songs aus dem Internet runterladen, einzelne Songs meistens. Besteht da nicht die Gefahr, dass das Album an sich an Bedeutung verliert und gerade konzeptionelle Alben stark an Wert verlieren, weil sie kaum mehr als Ganzes wahrgenommen werden?

Slug: Ich glaube eigentlich nicht, dass das passieren wird, denn es gab ja schon immer Leute, denen es egal ist, die sich nicht für Alben interessieren und nur einzelne Songs von dir hören wollen. Oder sie hören Musik im Auto, im Radio, halt so nebenbei. Die richtigen Musikliebhaber, die werden weiterhin auch die Platten kaufen. Deshalb hab ich auch vor dem Downloaden nicht so viel Angst. Das einzige, was ich wirklich schade finde, ist, dass mit dem Downloaden das persönliche Element verloren geht. Wenn ich jemandem ein Tape aufnehme, oder eine Mix-CD brenne, mit verschiedenen Songs, ist das natürlich auch ein Bootleg, ok. Aber ich mache das Tape nur für dich. Du weißt, du hast das Tape von Sean (Slug), der es extra für dich aufgenommen hat, deshalb bist du besonders neugierig darauf, denn du willst auf jeden Fall hören, was ich gut finde, und bist gespannt darauf, ob sie dir auch gefallen werden. Wenn jemand sich einfach von den Festplatten anderer bedient, ist das sehr unpersönlich. Man nimmt diesen und jenen Song, weil man gehört hat, dass er gut sein soll. Das ist etwas anderes, als wenn dir ein guter Freund etwas empfiehlt und es dir in die Hand drückt. Das finde ich etwas schade in Bezug auf das Internet.
rap.de: Auf dem Track „Try To Find A Balance“ sagst du etwas über eine Show in Cincinnati, wo dir jemand vorhält, dass du nicht “real” seiest…

Slug: Es ist so, dass Cincinnati ein Problem hat: Es wird einfach zu viel geprügelt in dieser Stadt.
rap.de: Auf den Konzerten oder überhaupt?
Slug: Einfach immer (lacht). Und auch bei jeder Show, die wir dort haben. Aber manchmal bin ich auch einfach nur so in der Stadt, stehe auf der Straße und esse ein Sandwich, und plötzlich fangen Leute an, sich zu schlagen, das ist echt kaum zu glauben. Die Leute sind einfach verrückt. Eine verrückte Stadt, dieses Cincinnati.

rap.de: Ich war bisher noch nicht dort.

Slug: Du solltest es lassen, das kann nur schlecht enden. Nein, im Grunde genommen mag ich Cincinnati. Ich liebe die Stadt sogar. Du musst dich nur an die Gewohnheiten und an den Schlag der Leute dort gewöhnen (lacht). 
rap.de: Du hast deine beiden vorherigen Alben jeweils mit einem Satz beschrieben:" Lucy Ford" war „Mad about girls“ und „God Loves Ugly“ war „Mad about the world“. Wie würdest du „Seven´s Travels“ beschreiben.

Slug: Oh, lass mich nachdenken. Ich glaube „Seven´s Travels“ ist im Grunde genommen „Be careful what you wish for“. Ja genau, das trifft es, denn was habe ich mir immer gewünscht: Ich wollte Rapper werden! Und was wollen die Kids heute werden, wenn du sie fragst: Rapper, der beste auf der Welt! Dabei vergisst man leicht, dass es eine folgenreiche Entscheidung sein kann. Ich habe mich für diesen Weg entschieden und musste auf vieles verzichten. Ich habe meine Familie vernachlässigt, Freunde, die Liebe, Pläne und so weiter. Man sollte sich also auch der Konsequenzen bewusst sein, die mit so einem Wunsch einhergehen. In diesem Sinne also: „Be careful what you wish for.”
rap.de: Um eure Sachen zu veröffentlichen, habt ihr euer eigenes Label, Rhymesayers, gegründet…

Slug: Ja, das Label gehört Musab, Ant, Siddiq und mir. Wir haben es 1993 gegründet, um unsere Tapes unters Volk zu bringen. Die haben wir hier in Minneapolis, wenn die Leute aus den Konzerten kamen, aus unseren Rucksäcken verkauft. Wir wussten damals noch nicht, was wir gestartet hatten. Dann kamen auf einmal die Leute an und wollten unser Zeug haben, die haben uns die Tapes aus den Händen gerissen. Es gab auch welche, die fragten, wie wir das schafften. Also haben wir ihnen gezeigt, wie man ein Tapelabel macht. Das war eine reine City-Sache. Irgendwann machten die Tapes von Atmosphere und Musab dann die Runde in den Staaten, das war für uns der Startschuss, CDs zu machen. Die ganze Zeit über war es so, dass wir es einfach nur gemacht haben, weil wir Bock darauf hatten, um Props zu bekommen, nicht, weil wir ein Geschäft daraus machen wollten. Jetzt habe ich ein wenig Angst vor dem Erfolg, Angst, dass alles kaputt gehen könnte. Dass es zu groß wird.

rap.de: Hast du mal darüber nachgedacht, nicht zu expandieren?

Slug: Das geht leider nicht. Wir sind ja dazu verpflichtet, unseren Künstlern zu helfen, sie zu unterstützen, ihnen das Bestmögliche zu bieten und ihre Karrieren voranzutreiben. Wir haben so viele Freunde, denen wir unbedingt helfen wollen – denn es macht uns ja auch großen Spaß -, dass wir expandieren müssen.
rap.de: Wie wichtig sind Liveshows für euch? Ant ist doch gar nicht mit auf der Bühne, oder?

Slug: Nein, er ist nie dabei, er geht nie raus (lacht). Deshalb habe ich auch Mr. Dibbs als meinen Tour-DJ dabei.Liveshows sind schon sehr wichtig für uns. Ich würde die Arbeit an den Alben und die Liveshows aber schon auf eine Stufe stellen, mal ist das eine, mal das andere gerade wichtiger für uns. Wir nehmen die Liveauftritte aber sehr ernst. Mir ist es einfach wichtig, dass meine Musik auch live 100%ig rüberkommt. Platten sind eine Sache. Ich bin Plattensammler, habe eine Menge Platten hier rumstehen. Es ist klasse, sie zu besitzen und dann und wann wieder hervorzuholen und sie sich anzuhören. Aber eine Liveshow kann dir etwas ganz Besonderes bieten. Das muss nicht mal etwas mit der Show zu tun haben. Du triffst möglicherweise die Frau deines Lebens. Dann bleibt es ein unvergessener Abend. Die Show ist für mich so wichtig, dass ich selbst unwichtig werde. Du bist in einem Raum, der voll ist mit Leuten, die wie du denken oder die zumindest musikalisch mit dir auf einer Wellenlänge sind, und sie kommen, um dich zu sehen. Auf solchen Veranstaltungen treffen sich Gleichgesinnte. Da steht vielleicht ein MC auf der einen Seite des Raumes und ein DJ auf der anderen, die sich dann zufällig über den Weg laufen, sich kennenlernen und zusammen Musik machen. Das ist doch super. Eine Liveshow ist so wichtig für so viele verschiedene Faktoren, nicht nur für die Künstler selbst.
rap.de: Ihr habt ja nun schon diverse Shows gerockt. Da war doch sicherlich etwas Außergewöhnliches dabei, in welcher Hinsicht auch immer.

Slug: Lass mich nachdenken. Wir hatten mal einen Auftritt in einem College. In der ersten Reihe stand eine Frau, die war unglaublich besoffen. Während ich gerappt habe – ich muss noch erwähnen, dass die Bühne recht klein und auch nicht besonders hoch war – hat diese Frau ständig versucht, mir an die Weichteile zu greifen. Ich musste immer wieder zurückweichen, weil sie einfach nicht damit aufgehört hat. Immer wenn ich wieder in ihre Nähe kam, hat sie es wieder versucht. Ich hab mich also auf die andere Seite der Bühne verzogen, um ihr aus dem Weg zu gehen. Was tat sie, sie wankte natürlich auch auf die andere Bühnenseite und warf etwas nach mir. Ich habe die Musik gestoppt, sie angeguckt und sie, durchs Mikro, gefragt, warum sie hier so abgeht und was eigentlich ihr Problem ist. (macht eine kurze Pause) In diesem Moment holt sie aus und haut mir mit voller Wucht in die Eier…(lachen) – dude, she punched me so hard! – das war echt nicht zu glauben. Sie war eher eine kleine, zierliche Person, von der ich so eine Aktion nicht mal im Traum erwartet hätte. Aber der saß! Die hat mich gefällt wie ein Baum, und ich lag auf dem Bühnenboden. Das Publikum hat sich natürlich gar nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Das Schlimmste aber war, dass es richtig böse wehgetan hat, aber ich selbst auch lachen musste. Eine echt verrückte Sache. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so aus voller Brust gelacht, während ich gleichzeitig solch starke Schmerzen hatte. Das ist auf jeden Fall etwas für meine Analen. Nach dem Motto: „Live is punching me in the dick!“ (lacht) Ich konnte wirklich nichts anderes tun, als mich auf dem Boden zu krümmen und zu lachen. Was für eine bittersüße Geschichte…
rap.de: Ganz groß! Und jetzt wirst du wahrscheinlich immer einen Tiefschutz tragen…

Slug: (lacht) Genau, jetzt gehe ich nur noch mit einem Schutz vor den Eiern auf die Bühne. Nein, nicht wirklich. Ich hoffe, dass das die Ausnahme war und bleibt!