Die entsolidarisierte Gesellschaft

Auch wenn heute knapp drei Wochen nach den Ereignissen kaum noch jemand davon spricht, auch wenn Politik und Presse überraschend schnell zur Tagesordnung übergegangen sind, auch wenn ich selbst das Geschehen erst mit einiger Zeitverzögerung überhaupt mitbekommen habe, da ich in Dänemark fast den sintflutartigen Regenfällen zum Opfer gefallen wäre und die dänischen Zeitungen nichts davon auf ihren Titelseiten abgebildet haben, auch wenn, auch wenn, auch wenn… so wollte ich dann doch noch einen kleinen Kommentar dazu hinterlassen. Denn ganz so nebensächlich wie jetzt getan wird, fand ich das Geschehene dann doch nicht.

England im Sommer 2011. Plündernde Gangs rasen durch die Straßen, zerstören das Gemeinwesen und hinterlassen eine zunächst schockierte Politik und Öffentlichkeit, die sich aber bewundernswerterweise sehr schnell von diesem Schock wieder erholt zu haben scheint. In ersten Reaktionen hieß es, es handele sich hier um eine wertelose Generation, die auf althergebrachte Tugenden scheißt und im direkten Vergleich wurde die arabischen Proteste gegen den brandstiftenden Mob auf Englands Straßen aufgewogen, wobei behauptet wird, dass dort die Menschen für Meinungsfreiheit und Demokratie auf die Straße gehen würden, und der Mob hier, weil sie Handys klauen wollen. Dass es sich dabei wahrscheinlich um ein und dasselbe handelt, nämlich darum, wie man in seinen Gesellschaften teilnehmen kann und darf, wird dabei geflissentlich übersehen. Als sich am  17.12.2010 der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi auf offener Straße selbst verbrannte, richtete sich sein Protest auch nicht unbedingt gegen die herrschende Zensur im Staate Tunesien, sonder ganz konkret gegen die beschissenen wirtschaftlichen Perspektiven und die ganz konkreten Schikanen der örtlichen Polizeibehörden, die seinen fliegenden Handel behinderten.

Schnell sprach der britische Premier David Cameron nach den Ereignissen von London, Manchester und Birmingham von der Broken Society, von der er im Übrigen aber auch schon vorher gesprochen hat, und meinte damit, dass hier die Werte und Tugenden einer bürgerlichen Gesellschaft über Bord geworfen worden seien. Die konservative Elite sah sich bestätigt darin, dass man ja schon seit langem einen gewissen Werteverfall diagnostiziert hatte, ausgelöst wahrscheinlich von den 68ern, die die Disziplin und die Ordnung und den Fleiß und die guten Manieren zerstört hätten und durch ihre antiautoritäre Scheiß-Erziehung solche Unartigkeiten wie Plünderung und Brandstifung geradezu heraufbeschworen hätten.

Auf der anderen Seite zeigten sich die linken Spontis und Träumer von sozialen Revolten bestätigt, die in den englischen Unruhen ein übergreifen des arabischen Frühlings auf europäische Straßen sahen und die kapitalistische Götterdämmerung prophezeiten. Die Unterschicht geht endlich auf die Straße und wehrt sich, was dann aber von zahlreichen Berichten zerstört wurde, dass auch Kinder aus wohlhabenden Mittelschichtsfamilien mit dabei waren. Insofern liegen beide Lager meiner Meinung nach falsch und bei den Riots handelt es sich wahrscheinlich eher um ein vollkommen zwangsläufige und natürliche Reaktion einer riesigen Kakerlake ohne Gehirn eines riesigen Organismus ohne Kopf mit dem Namen Kapitalismus. Einem System, das nicht denkt sondern einfach nur funktioniert.

Weder ist hier nämlich eine faule und arbeitsscheue Generation von konsumgeilen Nihilisten auf die Straße gegangen noch war es eine Generation von desorientierter Kids, denen einfach nur langweilig war. Auch gingen hier leider keine kampfbereiten, ausgebeuteten proletarischen Massen gegen die Oberschicht vor, in Vorbereitung auf eine soziale Revolution, angetrieben von dem Bestreben nach Freiheit und Gleichheit für alle. Nein hier gingen fleißige, sehr strebsame, durchaus arbeitswillige, konsumgeile Nihilisten ans Werk und das äußerst effektiv. Kids, die ganz genau wissen, worum es in dieser Welt geht, nämlich genau um diesen Konsum,einzig und allein angetrieben von dem Wunsch, alles mitzunehmen, was geht. Somit stand hier kein Feind der Gesellschaft auf der Straße und nicht unbedingt „DIE ANDEREN„, nein hier stand der Kapitalismus selbst auf der Straße, der Kapitalismus, wie er sich heute manifestiert: Individualisierte, vereinzelte Subjekte ohne soziale Beziehungen und Bindungen, vollkommen losgelöst von jeder Art sozialer Verantwortung, frei nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste„. In diesem Sinne genauso skrupellos handelnd wie alle übrigen Akteure des Systems, angefangen bei den Umwelt-zerstörenden Energiekonzernen, über die komplett geistesgestörte Atom-Lobby, die Staaten-zerstörenden Investmentbanken und Rating-Agenturen, bis hin zu den Steuer-hinterziehenden Ärzten und Kleinunternehmern. Jeder guckt eben, wo er was mitnehmen kann. Jeder schaut, wo er sich noch einen kleinen Vorteil, auch auf Kosten der Gemeinschaft erschleichen kann, jeder ist eben seines eigenen Glückes Schmied, insofern macht jeder so gut er kann und mit den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. Der eine mit einem gewieften Steuerberater, mit Lobbyisten und gekauften Staatsbeamten, die anderen eben mit Steinen und Molotowcocktails in der Hand. Wo ist da der Unterschied?

Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft, dann reißt der soziale Kitt. Wenn die Kinder der wohlhabenden auf Privatschulen gehen und so die Kinder der Unterschicht, die ANDEREN Kinder, gar nicht mehr zu Gesicht bekommen, wo soll da noch eine soziale Bindung, ein soziales Gewissen entstehen? Wenn es schick ist, möglichst asozial und hart zu sein, wenn man schon als „Opfer“ gilt, wenn man überhaupt darüber nachdenkt, einer normalen Arbeit nachzugehen, auch weil man sieht, dass man mit einer normalen Arbeit nie und nimmer auf einen grünen Zweig kommt, dann kann man zwar den Werteverfall eines Gemeinwesen beklagen, sollte sich aber vielleicht einmal Gedanken darüber machen, ob dieses Gemeinwesen überhaupt noch existiert.

Die Menschen fühlen sich vom Staat allein gelassen. Eigenverantwortung wird groß geschrieben und Bevormundung abgelehnt. Flexibilität und Selbstverwirklichung sind das Nonplusultra. Was auf der einen Seite einfach nur nach mehr Freiheit klingt endet in der Praxis auf der verzweifelten Suche nach einer bezahlbaren Krankenversicherung, der Suche nach den besten Strom und Handytarifen, nach der besten Schule für das überdurchschnittlich begabte Kind und natürlich der besten aller Tätigkeiten zum Preis von Scheinselbständigkeiten und ewigen Praktika. Arbeiten, wo sie wollen – Also überall! Arbeiten wann Sie wollen – Also immer! Für Meinungsfreiheit und Demokratie bleibt da wenig Zeit und wer nicht ganz so fit ist, nicht ganz so gebildet, nicht ganz so schnell und nicht immer mit vorne dabei ist, der darf froh sein, wenn er Arbeit hat und sich ansonsten vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg fürchten. Natürlich darf er auch nach unten treten, denn schließlich drängen in Handwerk und Fabrikarbeit ja die ganzen Polen und Rumänen auf den Markt, die ihre Dienste noch billiger auf den Markt werfen und auf die man selbst als Nachkomme benachteiligter Gastarbeitergenerationen noch verächtlich herunter schauen kann.

Solidarität wäre hier wahrscheinlich wirklich zu viel verlangt und mutiert zu einer milde belächelten Kuriosität und wenn sich Menschen tatsächlich für Schwächere und Benachteiligte einsetzen, werden sie als rückwärtsgewandte und unverbesserliche Gutmenschen beschimpft.

Wie soll mit einem derartigen Bombardement von Schlagworten gekoppelt mit Berichten über zynische Bankchefs und verantwortungslosen Deals auf den Finanzmärkten überhaupt noch so etwas wie Gemeinschaftsgefühl entstehen? Die haben nichts mehr mit uns zu tun, also schlagen wir ihre Schaufensterscheiben kaputt. Die fackeln unsere Autos ab, also schützen wir unsere Wohngebiete in Zukunft mit Stacheldraht und privaten Sicherheitsdiensten und im Endeffekt muss eben jeder gucken, wo er bleibt. Das ist im Sinne eines freien Marktes, im Sinne von freier Fahrt für freie Bürger auch durchaus gewollt und gewünscht, nur braucht man sich dann nicht unbedingt zu wundern, wenn einem die ganze Sache auf die Füße fällt und man im wahrsten Sinne des Wortes die Scherben aufkehren muss. Dann müsste es eigentlich auch verständlich sein, dass unter diesen Umständen so langsam das Bewusstsein schwindet, dass wir am Ende doch alle in einem Boot sitzen und dass wir ja immer noch gemeinsam in diesem Land leben. Überrascht dürfte dann von solchen Ausbrüchen wie jetzt in England eigentlich niemand sein, am allerwenigsten die konservativen und liberalen Fürsprecher für noch mehr freie Marktwirtschaft. Überraschend daran ist lediglich die Überraschung der Eliten: „Ups. Das haben wir ja gar nicht kommen sehen.“

Doch da kommt noch mehr. Die Menschen fühlen sich allein gelassen, also schließen sie sich in ihren eigenen Zirkeln zusammen. Nicht ohne Grund erleben die sogenannten Motorradclubs zur Zeit einen regelrechten Boom, bis dahingehend, dass es in Süddeutschland sogar einen Motorradclub ganz ohne Motorräder gibt. Alles andere ist gleich. Die Kutten, die Abzeichen, die Rangordnung und die Rituale nur braucht man kein Motorrad mehr mitzubringen, wenn man bei den Black Jackets anheuern möchte, was bei den Hells Angels und den Bandidos ja immer noch Grundvoraussetzungen ist. Ansonsten zeigt man Stärke, man zeigt Gemeinschaftsgefühl, man zeigt Härte und vor allem lebt man nach seinen eigenen Regeln. Regeln, die im direkten Vergleich weitaus absurder und bescheuerter sind als jede noch so widersinnige staatliche Verordnung. Bei den sogenannten Outlaws herrscht mitnichten Gesetzlosigkeit und und teilweise unterwerfen sich die Mitglieder von solchen Gruppierungen quasi militärischen Schikanen, die sie im echten Leben auf keinen Fall akzeptieren würden, nur um den Schutz und der Gemeinschaft zu erhalten und von deren Macht zu profitieren. Einen Schutz, den sie in dieser Gesellschaft vermissen und den sie von dieser Gesellschaft auch schon längst nicht mehr erwarten. Doch auch hier unterscheiden sich die Mitglieder von Motorradgangs nicht wesentlich von den Mitgliedern anderer Gruppierungen, denkt man einmal daran, dass der gesamt Vorstand des Allianz-Konzerns aus ein und derselben studentischen Verbindung rekrutiert wird und was auf diesen Verbindungshäusern für Rituale veranstaltet werden, ist ja hinlänglich bekannt. Insofern ist alles wie immer: Das Kleine spiegelt sich im Großen, Kinder kann man nicht erziehen, die machen einem sowieso alles nach (K.Valentin) und die Krawalle von London sind die logische Konsequenz eines weltweiten Plünderungskapitalismus.

Was bleibt ist also wieder einmal der genauso verzweifelte wie nutzlose Appell an alle, miteinander zu sprechen, in Kontakt zu kommen oder zu bleiben und unter Umständen dieses System mal bei Gelegenheit, wenn’s geht, abzuschaffen.

Aber wie allen anderen Überbringern von schlechten Botschaften, so mangelt es auch mir an Alternativen und Lösungsvorschlägen. Und wie allen echten Propheten bleibt auch mir nur zu sagen: Kehret um, sonst wird Euch der Zorn Gottes treffen!

Aber hey, auf der anderen Seite… Wenn die Titanic schon sinkt, dann wäre es Schwachsinn gerade jetzt mit dem Champagner-trinken aufzuhören, oder? Solange der Boden noch einigermaßen in der Neige ist, kann man eigentlich auch weiter saufen. Dieser Satz ist zwar auch nicht von mir, aber er erscheint mir an dieser Stelle ganz passend.

In diesem Sinne: Prost und bis bald.

PS: Wenn Ihr diesen Blog kommentieren wollt, dann … könnt Ihr das jetzt ganz einfach machen. Ich habe das oder die App installiert. Yo!

Ansonsten könnt Ihr das aber auch gerne mit mir auf meiner offiziellen FB-Seite ausdiskutieren.