Na gut. Haken wir erst einmal die Aufhänger des Buches ab. Ja, es heißt „Ghetto-Sex-Tagebuch“ und die 17-jährige Hauptprotagonistin Ayla, aus deren Sicht es verfasst ist, hat Sex mit 55-jährigen, dicken Prollglatzen namens Peter und genießt ihn. Gern auch, wenn mehrere Peters ihr ins Gesicht spritzen. Findet sie richtig super, und beschreibt es ausführlich über mehrere Seiten, damit ihre Therapeutin, für die sie dieses Tagebuch schreibt, einen tieferen Einblick in Aylas Innerstes bekommt.
Trotzdem ist das Buch absolut nicht mit „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche vergleichbar, obwohl das nur allzu gerne versucht wird. Ayla hat zwar harten Sex mit alten Männern (und Frauen), ist allerdings nicht völlig geisteskrank und Sila Sönmez, Autorin des Buches, fühlte sich auch nicht berufen eine Luftblase voller Fäkalien in Worte zu fassen, um einfach mal schön zu schocken. Denn abgesehen von den sexuellen Vorlieben der jungen Türkin, ist Ayla ein selbstreflektierendes, kluges Mädchen aus Köln, das zwar im „Ghetto“ wohnt, aber ansonsten ein Gymnasium besucht, gerne Hip Hop Beats hört und ebenso gerne kifft.
Worum geht es also genau, im Ghetto-Sex-Tagebuch? In erster Linie um Selbstbestimmung. Allein, dass man erwähnen muss, dass Ayla zwar Türkin ist, trotzdem mit der konservativen Weltanschauung vieler türkischer Immigranten nicht viel am Hut hat, sondern statt Kopftuch lieber Minirock trägt, zeigt dass dieses Buch Deutschland nur gut tun kann. Sympathischerweise verurteilt sie Tradition und Glaube aber nicht, sondern stellt nur für sich fest, dass das alles nichts für sie ist und sie sich gewissen gesellschaftlichen Einschränkungen einfach nicht beugen möchte. Dabei verliert sie jedoch nie den Respekt für die Mitmenschen, die das tun.
Das Problem der Hauptdarstellerin ist allerdings, dass konservative Wertvorstellungen nicht vollständig aus ihr heraus zu bekommen sind, so dass sie nach einem weiteren, übers Internet geklärten, Gang-Bang anfängt sich dafür zu schämen und sich unwohl zu fühlen. Sie beginnt sich zu fragen, wie sich Würde und Ehre definieren lassen und weshalb sie trotz ihres selbstbestimmten Handelns weiterhin darauf achtet, dass möglichst niemand aus ihrem sozialen Umfeld etwas von ihrem Sexleben mitbekommt, um nicht als Schlampe abgestempelt zu werden.
Etwas Halt findet sie schließlich in einer Kölner 68er Kommune, bei Fina und Joseph. Völlig losgelöst von gesellschaftlichen Werten, geben ihr die zwei Althippies Tipps à la „Du-musst-auf-dein-Herz hören“, oder um es wörtlich zu zitieren: „Deine Erfahrungen können dich nur bereichern und zu deiner richtigen Erkenntnis bringen.“ Ohne den gefährlichen Teil dieser Idee weiterzudenken, fühlt sich Ayla in dem was sie tut bestätigt und fickt prompt auch mit der ganzen Kommune, kann sich dabei, anders als sonst, vollkommen fallen lassen und empfindet Glück und Freiheit.
Dass diese Bett-, Flur-, Küchen-, oder Strandgeschichten aber nur einen kleinen Teil der Story ausmachen, geht in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unter. Letztendlich geht es im Ghetto-Sex-Tagebuch nämlich um die sehr eindrucksvolle Beschreibung eines Teenagerlebens zwischen den Kulturen. Dabei glänzt Sila Sönmez mit detailverliebten Schilderungen der verschiedenen Charaktere aus den unterschiedlichen Kulturkreisen, so dass man des öfteren lachen muss und bei sich denkt: „Hey, den Typ kenne ich auch. Genau so!“
Alles in allem also eher ein Jugendbuch über das Erwachsenwerden eines charakterstarken Mädchens. Ayla nimmt zwar kein Blatt vor den Mund und möchte ihre Sexualität ausleben, ohne dafür verachtet zu werden, will sich also im klassischen Sinn emanzipieren, rasiert sich aber trotzdem die Beine, zupft sich die Augenbrauen und findet Männer, die ihre Beine übereinander schlagen schwul.
Es bereitet ihr auch kein Problem, ihren Intimbereich „Fotze“ zu nennen und trotzdem ist sie sensibel, voller Gefühle und hat, nebenbei bemerkt, einen sehr geilen Musikgeschmack. Blickt man sich in seinem Freundeskreis um, bemerkt man, dass wohl jeder irgendwie eine Ayla kennt und müsste ihr nach dieser Lektüre sogar ein bisschen dankbar dafür sein, dass sie einem nicht jedes Detail ihres Lebens erzählt. Manches will man nämlich gar nicht so genau wissen. Cooles Buch.