Selfmade Records – Chronik II

Wir leben in einer Zeit des Wandels, nicht nur wirtschaftlich und demografisch, sondern auch, was unsere wunderbare Deutschraplandschaft betrifft. Während Berliner Dinosaurier wie Aggro und Optik durch einen Meteoriteneinschlag also known as Rezession der Plattenindustrie ausgestorben sind, hat sich im Westen der Republik ein neuer Organismus herausgebildet. Ein vierzelliges Wesen, genetisch so vielseitig aufgestellt, dass auch diverseste Wetterumschwünge ihm nichts anhaben können. Diese Kreatur heißt Selfmade Records, ihr bevorzugter Lebensraum Düsseldorf  und ihre Zellen Casper, Favorite, Kollegah und Shiml. Vier Künstler, die kaum unterschiedlicher sein könnten und somit ein zu der althergebrachten "Bekannter Rapper, mehr oder weniger prominente Crewmember, ein gemeinsamer Sound“-Labelpolitik durchaus konträres Bild darstellen. Man erwartet vom mittlerweile zweiten Labelsampler aus dem Hause Selfmade also nichts Geringeres als Unterhaltung auf höchstem Niveau mit nahezu allen Facetten, die Deutschrap aktuell zu bieten hat.

Hohe Ansprüche an "Chronik II“. Allerdings zeigten insbesondere die Reim- und Vergleichs-Schnellfeuerwaffe Kollegah und der abgründige Drogenclown Favorite bereits, dass sie von ihrer Qualität her zur absoluten Spitze zu zählen sind. Dagegen wirkte der tiefsinnig bis depressiv anmutende Shiml immer etwas farblos, bekommt in der Emotionsecke aber nun Verstärkung durch das Neusigning Casper. Der wiederum ist wohl einer der Musiker, die die deutsche Rapszene ungemein spalten. Auf der einen Seite als mit einer mehr als eigenen Stimme gesegneter Poet gefeiert, auf der Anderen als der wohl erste "Emo-Rapper“ mit Touch ins indierockige abgelehnt. Ich für meinen Teil muss zugeben, dass ich zu denen gehöre, die auf diese Stimme absolut nicht klarkommen. Deshalb wird bei mir wohl auch nie ein Album des Bielefelders auf Repeat laufen, trotzdem lässt sich sagen: Der Junge hat seine Sache mehr als gut gemacht. Vorallem der Kindesmissbrauchs-Track "Vatertag“ entfaltet innerhalb kürzester Zeit eine nahezu körperlich spürbare Intensität, auch wenn zuerst nicht klar wird, inwiefern das Ganze vielleicht auch autobiografisch zu werten ist.

Shiml, auf dem Song "Er & Ich 2009“ einmal mehr mit seinem musikalischen Lebensabschnittspartner und Ebenfalls-Bremer Montana Max vereint, sorgt indes für weniger Überraschungen, überzeugt aber insbesondere mit dem gerappten Werdegang "Mit Jedem Atemzug“ in gewohnt hektischer Stimmlage dann aber doch, während der einzige Track seines Bosses Slick One kaum im Gedächtnis bleibt. Vielleicht muss man sich für die Thematik "Bruderkrieg“, so der Titel, samt Jugo-Feature Edo Maajka und "La Haine“-Zitat aber auch einfach begeistern können. Im Allgemeinen wirken die labelfremden Rap-Gäste etwas saft- und kraftlos, dabei handelt es sich hierbei um durchaus prominente Namen wie Olli Banjo ("Krieg“ mit Favorite) und den aktuell allgegenwärtigen Wahl-Berliner Marteria ("Rock’n’Roll“ mit Casper). Der mir bisher unbekannte SunDiego macht auf dem mit einer absolut unerträglichen Eurodance-Hook gesegneten "Gs Sterben Jung“ (Ich weigere mich an dieser Stelle, das falsch gesetzte Apostroph zu übernehmen) seine Sache allerdings ordentlich, klingt stellenweise jedoch etwas zu sehr nach seinem Kollabopartner Kollegah.

Der selbsternannte Boss wiederum enttäuscht auf "Chronik II“ etwas. Die "Halbautomatik“ scheint aktuell eine Ladehemmung zu haben, besonders deutlich wird dies auf dem geradezu lieblos wirkenden "Mittelfinger Hoch“-Part, obgleich der Song selbst die absolute Live-Hymne darstellt. Nur "Jebiga“ mit Favorite, sowie die mit Seitenhieben gegen Aggro gespickte Pre-Single "Westdeutschlands Kings“ lässt den stolzen Halbkanadier zu gewohnter Form auflaufen. Es bleibt zu hoffen, dass der Gute sich beim kommenden "Jung, Brutal, Gutaussehend“-Projekt mit Farid Bang etwas mehr Mühe gibt.

An dieser Stelle muss ich zugeben, dass es einen Künstler gibt, der mich mehr als überrascht hat. Geradezu begeistert habe ich sofort jedem erzählen müssen, wie grandios ich seine beiden, auf dem Selfmade-Sampler vertretenen Solotracks finde und bin wohl insbesondere mit "Superman“ dem ein oder anderen so richtig auf die Nerven gegangen. Favorite, ich ziehe meinen Hut. Wer es dermaßen unterhaltsam und trotzdem nicht langweilig werdend schafft, sämtliche US-Clubhits der letzten Jahre durch den Kakao zu ziehen, hat nichts anderes als absolute Ehrerbietung verdient. Nur Chimperator-Signing Kaas wird über die mehrmalige Erwähnung seines Namens wohl nicht all zu froh sein. In "Lebenswerk“ hingegen muss nur Fave selbst einstecken und bei diesem Song zeigt sich einmal mehr, dass nicht eine betont traurige und nachdenkliche Stimmung ein Lied "deep“ macht, sondern dass es manchmal eben einfach reicht, zu sich selbst und der Öffentlichkeit gnadenlos ehrlich zu sein. Egal ob es sich dabei um exzessiven Drogenkonsum, verpasste Chancen oder Probleme mit der Monogamie handelt.

Insgesamt ein durchaus ansprechendes Produkt mit musikalischer Untermalung von unter anderem Hausproduzent Rizbo, Gordon Shumway, Bjet, Tikay One und Vizir, das größtenteils befriedigt und stellenweise sogar begeistert. Zusätzlich gibt es außerdem noch eine DVD, mit Making Ofs, Tourberichten und anderen Sachen, die wohl irgendwann mal aufgenommen und jetzt wieder gefunden wurden. Besonders faszinierend ist es, wie "der kanadische Deutsche“ dann, wenn er sich selbst als "Boss“ tituliert und über Interviewtermine und Ähnliches redet, augenblicklich in den "Ich spreche von mir selbst in der dritten Person“-Modus switcht. Außerdem hat jeder der vier Künstler eine Art eigenen kleinen Dokufilm, die Länge dieser Videos beläuft sich auf jeweils um die sieben Minuten. Casper interviewt bei der "Kopf Oder Zahl“-Premiere im Rahmen der Berlinale den ein oder anderen C-Prominenten, Kollegah und Farid Bang rauchen Shisha, gehen in den Puff (das wiederum sieht man nur in Ansätzen) und besuchen im Anschluss daran willige… Ich sage mal "Frauen“, Favorite tritt in der JVA auf und unterhält sich mit einem Häftling und Shiml wurde bei seiner Releaseparty anlässlich der Veröffentlichung von "Im Alleingang“ gefilmt.

Vielleicht sind es gerade diese Gimmicks, die Selfmade aktuell den entscheidenden Vorsprung zur Konkurrenz sichern. Man mag zur Musik stehen wie man möchte, aber eins lässt sich nicht bestreiten: Das aktuelle (Indie-)Label Nummer Eins kommt aus Düsseldorf.