Alligatoah, der britische Botschafter und die Doppelmoral (Kommentar)

Ihre Majestät Queen Elizabeth II hat die Hauptstadt gestern Abend ohne größere Zwischenfälle wieder verlassen – dafür sorgt ihr Botschafter nach einem Interview beim Sender radioeins für nichts als Empörung. Moderatorin Rust und auch der Berliner Kurier sind not amused – lächerlicherweise.

Was war da los? Der Botschafter Ihrer Majestät, Sir Simon Mc Donald, hatte es gewagt, sich den Song „Willst du“ von Alligatoah zu wünschen, der damit wohl zum Skandalrapper, womöglich gar zum Rüpelrapper, sicher aber zum Drogenrapper abzurutschen droht.
Nachdem besagter Song gespielt worden war, sind alle Beteiligten mehr als schockiert. Ich nehme an, eine solche Sendung bedarf keinerlei Vorbereitung, so dass der „Eklat“ im Vorfeld auf keinen Fall vermieden hätte werden können. Natürlich musste der Berliner Kurier das Thema noch einmal aufgreifen, um sich seiner Empörung zu entledigen. Ich zitiere aus dem weitgehend kenntnisfreien Artikel des Kuriers, geschrieben von Herrn Marc Fleischmann: „Im Song geht es um den Konsum von Drogen, der sogar verherrlicht wird. Ein Auszug aus den Textzeilen: „Willst du mit mir Drogen nehmen? Dann wird es rote Rosen regnen.“ In dem Song geht es um ein junges Paar, das in der Beziehung den nächsten Schritt gehen will. Für den Autor des Stückes heißt das: Gemeinsam Drogen nehmen!“ What?

Ich war in der gesamten Zeit der gymnasialen Oberstufe quasi zu nichts anderem verdammt, als Goethes „Faust“ (sowohl den ersten als auch den zweiten Streich) so sehr auseinanderzunehmen und zu interpretieren, bis es einem zu den Ohren rauskam. Wieso ist es einem vermutlich ebenso gebildeten und belesenen Redakteur eines Berliner Boulevardblatts, der kein spannenderes Thema als dieses gefunden zu haben scheint, nicht gelungen, den ebenfalls in Reimform verfassten Text von „Willst Du“ besser zu interpretieren?

Dem armen britischen Botschafter, der unserer Sprache nicht seit Anfang seines Lebens mächtig ist und sich trotzdem wirklich gut auf Deutsch zu artikulieren weiß, darf kein Vorwurf gemacht werden – Alligatoah rappt gerade in den Strophen viel zu schnell, als dass er alles verstehen müsste. Vermutlich hat er den Song einfach wegen der eingängigen Melodie ausgesucht. Aber eine Bettina Rust und gerade ein Marc Fleischmann, der vor Schreiben des Artikels genug Zeit hatte, sich den Songtext durchzulesen und den Song noch einmal zu hören, sollten beide in der Lage sein, die Thematik richtig zu deuten, den Text zu interpretieren und die beinahe erdrückende Masse an im Raum schwebendem Sarkasmus zu erkennen, die Alligatoahs „Willst du“ zu dem machen, was es ist. Aber nein, wieso denn auch? Ist ja nur HipHop, dieses Rap-Zeug, da erwartete die gebildete, über diesem Unfug stehende Armada deutscher Journalisten keine tiefere Bedeutung. Und das ist traurig. Immer wieder die Problematik der Doppelmoral, diese Schlampe.

Nun gut, wer wollte bestreiten, dass es im HipHop immer mal wieder um Schwanzlänge-Messungen und heillose Übertreibungen geht – sogenannte Hyperbeln übrigens – wie wir sie schon in zahlreichen aus Jamben und Trochäen geschaffenen Gedichten der Romantik als solche zu erkennen vermochten (keine Sorgen, kann man alles googlen). Mit ein bisschen gesundem Menschenverstand und Interpretationsfähigkeit. Glaubt wirklich irgendjemand, dass Kollegah die halbe Arche Noah gehäutet hat, um sich daraus Schlüpper und Langhanteln zu basteln? Entschuldigung, das glaubt er sich nicht mal selbst – muss er auch nicht. Es geht um Unterhaltung. So wie bei Goethe auch. Eben im Swag des 18. und 19. Jahrhunderts, Bitches!

Damit derartige Missverständnisse in Zukunft nicht mehr vorkommen, möchte ich den Versuch wagen und Alligatoahs skandalösen Song rezitieren und dabei interpretieren (meine Deutschlehrerin wäre bestimmt stolz auf mich, wenn sie das lesen würde):

Wie man eine Liebe maximal romantisch lebt, will jeder wissen,
Keiner hilft uns – Fair play.
Gott sei dank gibt es Film und Fernseh’n,
Da, wo ich meine Bildung her nehm‚“

Alleine nach diesen ersten vier Zeilen möchte ich mich bereits meines englischen Frühstücks entledigen vor Sarkasmus und Ironie. Der Bezug auf Film und Fernsehen ist nichts als ein böser Seitenhieb auf die lächerlichen Themen, die alltäglich über den Bildschirm flimmern, weil sie keinerlei bildende Wirkung mehr haben – nochmal im Klartext: das ist Kritik an deutscher Mediengestaltung, an dummen Filmen und eben auch an jeglicher sinnfreier medialer Berichterstattung (ja, auch an Radio und Printmedien) – so wie übrigens der ganze Song. Die Droge in Alligatoahs Idee ist kein Stoff als solcher, sondern der alltäglichen Müll, den uns diverse Fernseh- und Radiosender täglich verabreichen. Gestreckt und in richtig schlechter Qualität. Checkste?

Schon die Tatsache, dass sich irgendjemand mal wieder der in HipHop-Texten schlummernden vermeintlichen Gefahr für die Allgemeinheit und gerade für die so vielversprechende Jugend annehmen muss, langweilt mich. Aber dass ein erwachsener, gestandener Reporter es nicht schafft, oder besser gesagt nicht schaffen will, weil er es gar nicht versucht, ist mehr als traurig. Womit aber mal wieder verdeutlicht wäre, was in unserer Gesellschaft falsch läuft – zu viele Scheuklappen, zu viele Vorurteile, zu wenig fähige Freigeister, die es schaffen, ihren Horizont zu erweitern und hinter die Fassade zu schauen, über den sprichwörtlichen Tellerrand zu linsen. Ich möchte hier nicht mit erhobenem Zeigefinger Reden schwingen, es passiert leider immer wieder, und es passiert mir selbst zu häufig, dass ich vorschnell urteilee, Menschen, Dinge und Sachverhalte in Schubladen stecke und mich diverser Klischees bediene – aber es lässt sich verhindern. Lasst uns schnulzige Popsongs hören und erst danach entscheiden, ob wir sie scheiße finden (um sie dann auf der nächsten Party doch wieder laut mitzugröhlen). Aber lasst uns auch ganz offen – gut recherchierte – Kritik üben, diese als solche erkennen und sie nutzen, um es besser zu machen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit und schmeiße hiermit meine Tätigeit, ich werde augenblicklich einen Verlag für Raptext-Interpretationshilfeheftchen à la Reclam gründen, damit sich solche Peinlichkeiten in Zukunft ein für alle mal vermeiden lassen. Macht wer mit?