Wie Graffiti das Volk erzürnt (Kommentar)

Die Veränderung des öffentlichen Straßenbildes ohne Genehmigung zieht in Singapur harte Strafen nach sich. Zwei Leipziger Sprayer durften das am eigenen Leib erfahren, wie Spiegel Online und andere Medien berichteten. Die beiden wurden dort beim Trainmalen gebusted und nun zu einer Gefängnisstrafe von 9 Monaten und zusätzlich 3 Stockhieben auf den blanken Hintern verurteilt. Das alleine ist moralisch schon sehr fragwürdig. Noch beängstigender allerdings sind die Kommentare, die Facebook-User unter den Meldungen verfassen. Exemplarisch dienen hier einige Kommentare unter dem Post von N24.

Abgesehen davon, dass die Reduzierung von Graffiti wenig mit der angestrebten „Sauberkeit“ des dritten Kommentatoren zu tun hat, ist die Forderung nach Prügelstrafen mindestens genauso mittelalterlich wie das Ersehnen einer Rückkehr der Todesstrafe. Solche Ideen scheinen jedoch momentan Konjunktur zu haben, was wohl auch mit steigenden Umfragewerten von Freiheit versprechenden Repressionsparteien wie der AfD einhergeht. Aber ich möchte hier keine Zusammenhangs-Klischees bedienen, sondern grundsätzlich die Frage stellen, inwiefern Gewalt je Menschen geholfen hat, Dinge mit klarem Verstand zu sehen? Die Erfahrung, auch bezüglich vieler Rapper-Vergangenheiten, zeigt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt erlebt haben, selten zu den vorbildlichen Erwachsenen werden, wie es hier propagiert wird. Ist es nicht auch eigentlich das, was Leute auf die Straße treibt, um gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren? Mit Prügelstrafen nähert man sich der dort kritisierten Scharia doch nur weiter an. Und mich erschreckt auch der Gedanke, dass diese Menschen wahrscheinlich selber Kinder haben, bei denen sie in der Erziehung Hiebe als Strafe anwenden würden.

Während diese Prügel nach Meinung der Kommentatoren offenbar dabei helfen, ein gesetzestreuer Bürger zu werden, scheinen sie einem differenzierten Blick auf die Welt wenig Vorschub zu leisten. Unreflektierte Sichtweisen werden als scheinbare Tatsachen in die Welt hinausgetragen, ohne sich mit der Kunst Graffiti und den Meinungen anderer Menschen auseinanderzusetzen. Der inflationäre Gebrauch des Wortes „Schmierereien“ in der Kommentarspalte vermittelt vor allem den Eindruck, dass individuelle Kunst im Straßenraum weder wertgeschätzt, noch überhaupt als solche betrachtet wird, ganz unabhängig davon, ob nun Eigentum beschädigt wird. Anscheinend gilt Graffiti immer noch als Lebensraumverschmutzung, die die Menschen nicht sehen möchten. Analog dazu können große Firmen sich für Geld riesige Werbeflächen mieten und so das Straßenbild ebenfalls im großen Sinne verändern, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Das wird nicht kritisiert, nicht einmal angesprochen, und so ist es klar, dass diese Leute nicht begreifen können, was Graffiti eigentlich ist und welchen Zweck das Sprayen als Pfeiler des Hip-Hop verfolgt. Natürlich gibt es Unterschiede, denn Graffiti entsteht meistens unerlaubt auf Flächen, die dem Urheber nicht gehören,  Kritik daran ist sicher berechtigt und diskutabel. Aber eine direkte Verurteilung, ohne sich mit der Materie, an der Kritik geäußert wird, auseinanderzusetzen, führt nicht nur hier schnell zu stark subjektiv geprägten und unreflektierten Aussagen.

Graffiti hat (in den meisten Fällen) wenig mit vorsätzlichem Vandalismus zu tun, sondern den Zweck, auch unabhängig von materiellen Voraussetzungen seine Kunst in die Öffentlichkeit zu bringen und sich ungefiltert auszudrücken. Leider ist dies in unserem System schwer auf andere Weise möglich, insofern ist Graffiti nach wie vor eine Kunst des kleinen Mannes und eine Form der Kapitalismuskritik. Wenn man solche Beschädigungen verhindern möchte, dann sind Strafen mit Sicherheit die falsche Lösung, wenn es genügend legale, öffentlich sichtbare Wände gäbe, dann würden vielleicht auch mehr Writer diese bemalen, anstatt sich illegale, aber gut wahrnehmbare Spots zu suchen. In der Politik finden solche liberalen Lösungsansätze allerdings selten Platz. Dies wird auch an der nach wie vor durchgesetzten Drogenprohibition erkennbar. Wenn man Graffiti daneben auch noch als Kunst ansehen würde, dann müsste man vielleicht sein beschädigtes Eigentum auch nicht für teures Geld reinigen, sondern könnte sich an dem Bild erfreuen.

Nachdem ich mir all die Kommentare durchgelesen habe, in denen ein Großteil der Leute (bis auf ein paar, die an die Vernunft appellieren) Prügelstrafen fordern für Menschen, die das Eigentum anderer verändern oder beschädigen, habe ich ein wenig Angst. Vor diesen Menschen, die mehr Autorität fordern und dem Staat die Macht geben möchten, das Kapital über den Mensch zu stellen. Die ihre eigenen Kinder mit Gewalt bestrafen würden, und sich dabei sicher fühlen, dass sie auf der vernünftigen Seite sind. Ich frage mich, ist es nicht traurig, in einer Gesellschaft zu leben, in der Sauberkeit wichtiger als Menschenrechte ist? Die Unversehrtheit des Eigentums über die Unversehrtheit des Individuums zu stellen, ist das wirklich der richtige Weg? Wenn das die Früchte des Kapitalismus sind, dann weiß ich nicht, ob wir es nicht etwas zu weit getrieben haben.

Beitrag von N24.