Im Herbst letzten Jahres waren Haftbefehl und der Komödiant Oliver Polak im Frankfurter Stalburg Theater zu Gast, in dem der Theaterregisseur Michael Herl auf die Zwei wartete. „Dir sagt man nach, dass du fast dadaistisch unterwegs seiest“, waren nach der Begrüßung die ersten Worte, die der Offenbacher von Herl zu hören bekam. Der Rapper verzog das Gesicht und antwortete mit einem harschen „Wie?“. Wer die Arte-Sendung „Durch die Nacht mit …“ Haftbefehl und Polak gesehen hat, erinnert sich eventuell an diese Szene.
Haftbefehl ist nicht der Einzige, der mit dem Wort dadaistisch nicht viel anfangen kann. Wahrscheinlich geht es einem Großteil meiner Klassenkameraden aus meiner Zeit auf der Oberstufe des Gymnasiums im oberbayrischen Weilheim so. Frau Gesele, meine damalige Deutschlehrerin, machte stets einen Bogen um die Literaturepoche des Dadaismus. Immer wenn wir auf Dadaisten zu sprechen kamen, sagte sie, dass wir dieses Thema nicht behandeln würden: Es sei „zu komplex“.
Die Erklärung des Dadaismus fiel auch in der Arte-Sendung vage aus. „Eine sprachliche Kunstform“, erklärte Herl kurz. Polak, in seinem Gedächtnis kramend, fügte hinzu „Dadaismus ist doch abrupt und abgehackt oder?“
So ungefähr. Der Dadaismus entstand in Zürich, während des Ersten Weltkriegs (1914-1918), und drückte eine Protesthaltung gegen den Krieg aus. Ihre ablehnende Haltung gegen das sinnlose Massenmorden äußerten Dadaisten gerne, indem sie in ihren Texten ganz bewusst mit der Logik brachen. Der Krieg ist also für den dadaistschen Künstler genauso sinnlos wie seine unlogischen Texte. Ein häufiges Stilmittel hierzu ist die Verwüstung von Sätzen und Wörtern. Dadaismus ist eine Kunst, die keine sein will – eine Antikunst.
Der Deutschrap-Klassiker „A-N-N-A“ (1999) von Freundeskreis ist vom 1919 veröffentlichten Gedicht „An Anna Blume“ des deutschen Dadaisten Kurt Schwitters inspiriert. In beiden Werken weisen die Künstler darauf hin, dass man Anna von vorne wie von hinten lesen könne.
Herl ist im Übrigen nicht der Erste, der im Azzlack-Rapper einen Dadaisten sehen will. Schon in einem Artikel der Zeit, in dem der Kulturredakteur Daniel Haas Haftbefehl zum „deutsche Dichter der Stunde“ auserwählte, tauchte ein dadaistischer Verweis auf: Seine Texte seien in „der Verspieltheit eines Dadaisten auf Speed“ geschrieben.
Wie aber kommen deutsche Intellektuelle wie Haas oder Herl darauf, in den Baba-Haft-Texten Dadaistisches zu erkennen? Vielleicht sehen sie in Haftbefehl einen Dadaisten, weil des Offenbachers Kauderwelsch – bestehend aus Begriffen aus dem Deutschen, Türkischen, Kurdischen, Serbischen, Arabischen und anderen Sprachen – für sie genau so unverständlich klingt wie das 1916 publizierte Gedicht „Karawane (Zug der Elefanten)“ des deutschen Dadaisten Hugo Ball:
Haftbefehl ist kein Dadaist, aber seine Lyrics haben durchaus etwas Dadaistisches. Es fängt mit der Parallele zwischen Gangsta Rap und dem Dadaismus als Kunstgattungen an: Dadaisten schockierten und provozierten das Publikum mit ihrer Konventionen-ablehnenden Ausdrucksweise. Sie waren fast so etwas wie die Gangsta Rapper ihrer Zeit. Manche Zeitgenossen hatten sogar Angst vor Dadaisten: Sie waren in ihren Augen rowdyhafte Bürgerschrecke.
Auch die kulturelle Vielfalt teilt Haftbefehl, der im multikulturellen Offenbach aufwuchs, mit der Entstehung des Dadaismus: In die neutrale Schweiz, die während der Weltkriege friedlich blieb, flohen viele Europäer von der lebensbedrohlichen Lage in ihrer Heimat. Auf Zürichs Straßen wurden zu dieser Zeit deutlich mehr Sprachen als Schweizerdeutsch gesprochen.
Es gibt sogar ein dadaistisches Gedicht, das als Gangsta Rap durchgehen könnte. Die Rede ist vom 1918 veröffentlichten „Gesang an die Welt“ von Georg Grosz. In diesem Representer-Gedicht stellt er sich als „kein[en] schlappe[n] Hund!!!!“ vor. Der Dadaist habe „Niggersongs im Kopf“. Es kommen auch Deutschrap-typische Wie-Vergleiche vor: „Bunt wie Hyazinthenfelder, / Oder turbulente D-Züge.“ In „Gesang an die Welt“ wird es wie bei Haftbefehl-Songs auch mehrsprachlich: „Portwein, schwarz etikettierter, her – Heidonc, en avant! / L’homme masqué!!!! / Georges le Boeuf!!!! / Champion of the world!!!!“ Yeah!
Grosz sammelt seine „boys“ zusammen, weist darauf hin, dass „die Kriminalität steigt“ und rollt im Benz: Er kurbelt ihn aber nur auf „150 km (KA-EM)!“ Haftbefehl beschleunigt seinen Mercedes auf 200 km/h in „H.A.F.T.“. Geht eben alles schneller heutzutage. Beim Offenbacher heißen die Jungs nicht „boys“ sondern „Achis“ (vom arabischen Wort für Bruder abgeleitet) oder „Chabos“ (abgeleitet von der Sprache der Sinti). „Die Kriminalitätsrate steigt“ auch beim kurdischstämmigen Hessen, wie in „Azzlacks sterben jung“ zu hören ist.
Vielleicht wäre Haftbefehl ein Dadaist geworden, wenn er Anfang des 20. Jahrhunderts in Zürich gelebt hätte. Seine Texte haben wie gesagt etwas Dadaistisches. Man kann also durchaus von einem Dadaismus Haftbefehl’scher Prägung sprechen. Und um eine Antwort auf die Titelfrage zu geben: Der Baba ist nicht Dada, er ist – wenn überhaupt – Baba-Dada.