Dass er sich das überhaupt antut. Sein neues Album als Nachfolger des von Fans wie Kritikern meistgefeierten Werkes der eigenen Diskografie zu inszenieren, wäre für jeden Rapper ein riskanter Move. Aber für einen Eminem? Dem zwar mit dem Vorgängerwerk „Recovery“ ein Befreiungsschlag gelungen war, aber bei dem man sich trotzdem nicht mehr so sicher ist, ob er’s noch drauf hat?
Wenn Eminem den guten Namen seines größten Klassikeralbums bemüht, dann weckt er bei jedem Mittzwanziger nostalgische Erinnerungen. Erinnerungen daran, wie er anno 2000 als 13jähriger Hosenscheißer in den örtlichen Media Markt gegangen ist, sein Sparschwein für dieses Album mit der Holzhütte auf dem braunen Cover geschlachtet hat und dann zuhause in eine Welt entführt wurde, die als eine von wenigen noch dazu geeignet war, seine Eltern zu schocken. Eine Welt, erschaffen von einem manischen Soziopathen, der mit maximaler Detailverliebtheit und ungeahnter technischer Virtuosität seinen Gewaltfantasien freien Lauf ließ. Man verstand natürlich nicht viel von dem, was Eminem da erzählte, höchstens ein paar Schimpfwörter und dass er gerne Oralsex mit Christina Aguilera hätte. Aber als Identifikationsfläche hat das absolut gereicht.
Im Lichte des jüngsten, nicht immer glanzvollen Outputs von Eminem scheint fast schon wieder ein bisschen in Vergessenheit geraten zu sein, wie revolutionär die “Marshall Mathers LP“ für ihre Zeit war. Das Problem ist natürlich, dass der mittlerweile 41jährige nun Erwartungen weckt, die er kaum erfüllen kann.
Zumal dieses Album auch überhaupt nicht in die Dramaturgie seines bisherigen Schaffens zu passen scheint. Die ersten drei Alben bis zur ersten “Marshall Mathers LP“ etablierten diesen seltsamen weißen Typen aus dem Trailerpark in Detroit und sein gewalttätiges Alter Ego Slim Shady. “The Eminem Show“ und “Encore“ zeigen einen Rap-Superstar, der mit seinem alten Leben langsam Frieden schließt, aber an seinen neuen Problemen zu zerbrechen scheint. “Relapse“ illustriert den musikalischen und privaten Tiefpunkt, an dem sich Eminem Mitte der Nullerjahre befand. Und “Recovery“ ist die Wiederauferstehung von Marshall Mathers sowie die Neuerfindung eines gereiften Künstlers, der aus seinen zahlreichen Fehlern in der Vergangenheit bittere Konsequenzen ziehen musste.
Wo passt da jetzt eine “Marshall Mathers LP 2“ rein? Der frühe Eminem lebte von einer unbändigen Wut auf alles: auf den abgehauenen Vater, die alkoholkranke Mutter, die große Jugendliebe Kim. Der Eminem von heute gerät höchstens in Rage, wenn sich die Nachbarskinder wieder auf seinem verdammten Rasen herumtreiben. In diesem Sinne muss Em also noch viel krasser in eine künstliche Rolle schlüpfen, als es auf den Vorgängeralben der Fall war.
Und natürlich ist die “Marshall Mathers LP 2“ auch ein Stück weit der verzweifelte Versuch, auf die goldene Ära der eigenen Schaffenskraft zurückzugreifen. Nostalgie ist ein mächtiges Mittel. Gleichzeitig klingt das Album aber auch so unverkrampft, wie es Eminem dem Rolling Stone im Interview erklärte: Er habe eben ein wenig im Studio rumgespielt und sei unvermittelt in diesen alten Marshall-Mathers-Vibe reingekommen, so dass sich der Albumtitel von selbst ergeben hat.
Es spricht für dieses Album, dass es im Ergebnis nicht halb so erzwungen klingt, wie man im Vorfeld befürchten musste. Großen Verdienst daran hat nicht nur Eminems überzeugende Performance, sondern auch die Produzentenriege rund um den großen Rick Rubin. Mit dem alten Rauschebart als Executive Producer hat das Album über weite Strecken einen rohen, ungeschliffenen Sound erhalten, der wunderbar ins Nostalgie-Konzept passt. “Rhyme or Reason“ etwa ist eine spaßige Abfahrt über ein recht dreistes Sample des Hippie-Klassikers “Time of the Season“ von den Zombies, in der Eminem komplett durchgeknallte Zeilen über Star Wars, Komodo-Warane und Charles Manson spittet. Die Single “Berzerk“ wiederum arbeitet mit einem einzigen Breakbeat und zitiert ungefähr die halbe Popkultur der Neunziger, inklusive einer Eminem-Imitation der Styles von MCA und Snoop Dogg.
Gleichzeitig spinnt Eminem den dramaturgischen Faden der originalen „Marshall Mathers LP“ an vielen Stellen weiter. Der Opener “Bad Guy“ etwa erzählt die Geschichte des kleinen Bruders von Stan, jenem krankhaften Eminem-Fanboy, der im gleichnamigen Song aus dem Jahr 2000 Selbstmord beging, weil er sich von seinem Idol nicht beachtet fühlte. In “Bad Guy“ sind die Rollen nun allerdings vertauscht: Der kleine Bruder Matthew entführt aus Rache Eminem und bringt ihn um, indem er sich mit ihm im Auto von der Brücke stürzt – genau wie es damals der große Bruder getan hat: “My life’s garbage and I’m bout to take it out on you.“
Es ist Eminems erzählerischem Talent zu verdanken, wie gut diese zahlreichen kleinen Fortsetzungen zu den Original-Geschichten aus dem Jahr 2000 passen. Nichts wirkt albern, nichts aufgesetzt. An vielen Stellen zeigt Em auch, wie er sich im Vergleich zum ersten Teil persönlich weiterentwickelt hat. Nirgendwo wird das deutlicher wie in den diesmal versöhnlichen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter und mit Exfrau Kim. “Stronger Than I Was“ erzählt die altbekannte Trennungsgeschichte diesmal aus Kims Perspektive, während sich Eminem auf “Headlights“ für die oftmals harten Worte entschuldigt, die er für seine Mutter auf Songs wie “Cleaning Out My Closet“ gefunden hat: “Now I know it’s not your fault, and I’m not making jokes / That song I no longer play on shows and cringe every time it’s on the radio.“
Aber bei allen musikalischen Ideen und cleveren inhaltlichen Verschränkungen: Getragen wird dieses Album zum Großteil von Eminems grandioser Performance. Seit der “Eminem Show“ hat sich Marshall Mathers nicht mehr so angriffslustig und voller Energie präsentiert wie hier. Noch immer tackert Eminem völlig irre Reimkaskaden aneinander, noch immer scheinen seine Vergleiche und Sprachbilder direkt aus der Hölle zu stammen, noch immer bewältigt er jeden Beat so mühelos wie kaum ein anderer Rapper. Wenn Slim Shady auf dem letzten Song “Evil Twin“ anmerkt, die obersten vier Plätze jeglicher Rap-Bestenliste müssten eigentlich für 2Pac, Biggie und die zwei Alter Egos von Eminem reserviert sein, dann ist das nur zur Hälfte übertrieben. Zumindest gibt es momentan nicht viele Rapper, die sich einen Kendrick Lamar auf ihr Album holen können, ohne gegen ihn unterzugehen (“Love Game“).
Metaphorisch gesprochen hat sich Eminem tatsächlich schon zum grummelnden Rentner entwickelt, der die Jugend von heute von seinem Rasen verjagt – zumindest wenn dieser Rasen HipHop heißt. Über die gesamte Spielzeit hinweg schimpft der 41-Jährige über die neue Rap-Generation, lästert über seine angeblichen Nachfolger wie den schon wieder vergessenen Asher Roth und nörgelt, dass er als alter Mann eben doch wieder alles alleine machen muss: “So as long as I’m on the clock punching this time card / HipHop ain’t dying on my watch“.
Einem Eminem in dieser Form verzeiht man auch gerne die üblichen Kritikpunkte: Den überbordenden Hang zum Pathos; die teilweise unerträglich käsigen Refrains; die wie immer ungelenken Versuche einer poppigen Single fürs Radio (“The Monster“ mit Rihanna); und nicht zuletzt auch die äußerst freizügige Verwendung homophober Schimpfwörter, was Marshall Mathers mittlerweile einfach besser wissen sollte. Insgesamt ist die “Marshall Mathers LP 2“ daher kein Klassiker wie der erste Teil, dafür kommt dieses Album auch einfach zu spät. Aber wenn du, lieber Eminem, dieses Niveau halten kannst, dann fahr ich auch in 13 Jahren wieder mit meinem Hovercar zum örtlichen Media Markt, um mir die “MMLP 3“ zu holen. Versprochen.
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