Die berühmte goldene Mitte ist ein universell einsetzbarer Ratschlag, den man immer jedem erteilen kann, wenn man eigentlich gar keinen Rat zur Hand hat, aber konstruktiv und weise wirken möchte. So richtig finden kann man sie ohnehin nie, die geheimnisumwobene Balance. Mit ihrem neuen Langspieler ist die Antilopen Gang aber derart nahe dran, dass man ihnen laut „heiß! heiß!“ zurufen möchte. Die Befürchtung, Rock-Elemente würden Überhand nehmen, ist ebenso passé, wie die Angst vor verbissenen Polit-Referaten oder unverhohlen Flirts mit Radio-Airplay. Auf nichts davon wird komplett verzichtet, aber die Antilopen-typische Würze ist erstmals perfekt dosiert.
Den Löwenanteil der Produktion übernahmen wieder die Brothers from an̶̶o̶̶t̶̶h̶̶e̶̶r̶ Mother Danger Dan und Panik Panzer, wodurch der Gang-typische Kinderzimmer-Sound auch bei „Anarchie und Alltag“ Einzug hält, allerdings gerade bei den brachialeren Songs beeindruckend wuchtig daherkommt. Die bedrohliche Bassline auf „Das Trojanische Pferd“ lässt durchaus Blockbuster-Soundtrack Atmosphäre aufkommen und die Drums knallen genau da, wo sie es sollen. Auch wenn hier und da eingespielte Instrumente vorkommen: Der geneigte „Ich bin ja kein Rap-Nazi, aber…“, wie ich zuweilen auch einer bin, hat nie das Gefühl, ein Crossover untergejubelt zu bekommen. Den brutal polemischen „Baggersee“, der ganz offensichtlich keinen weiteren Sinn außer dreister Provokation verfolgt, an dieser Stelle mal außen vor gelassen. Im Gegenzug gibt es sogar charmant unaufdringliche Experimente mit Anleihen von aktuellen Südstaaten-Trends.
Natürlich heißt das nicht, dass „Anarchie und Alltag“ plötzlich von 808s und Autotune bestimmt wird. Letzteres ist ohnehin nicht notwendig, denn Danger Dan spielt weiterhin sein Gesangstalent aus und versorgt die Gang mit hervorragenden Hooks, die eingängiger denn je, aber nie kalkuliert oder penetrant klingen. Besser denn je auch die technischen Skills des Trios, insbesondere Panik Panzer glänzt durch spannende Flows und unvorhersehbare Reime – was bei der Antilopen Gang aber zweitrangig ist. Das Album lebt vom Weltbild und dem bissigen Humor der Hornträger.
„Die mit dem Toten“ stellen wie schon auf „Aversion“ zur Eröffnung ihren Status Quo klar und erklären, dass sie als „Quoten-Rebellen“ den Mainstream unterwandern. „Ein bisschen frech, aber schlau und so witzig und politisch und man schmückt sich mit uns, denn man gibt sich kritisch“. Der Blick aufs Geschehen und eigene Zunge wetteifern darum, wer nun schärfer geschliffen ist. Am Ende sind es genau diese beiden 1000 Grad heißen Messer, an denen sich Kritiker und Gegner immer wieder schneiden. Wenn es dann eben politischer wird, dann gibt es keine Zeigefinger-Pamphlete, sondern Songs wie das großartige „Tindermatch“, das am Beispiel von Deso Dogg und Lutz Bachmann die ideologischen Gemeinsamkeiten von islamistischen Fundamentalisten und selbsternannten Beschützern des Abendlandes, eigentlich einander Spinnefeind, entlarvt. Aber eben auf originelle und unverkrampfte Art.
Überhaupt klingt „Anarchie und Alltag“ viel unverbissener als es noch „Aversion“ tat. So kommt jeder Song mit einem meist spannenden Rahmenthema daher, das auf kluge Art und Weise in einem weniger monumentalen Aufhänger abgehandelt wird. Das stimmungsvolle „Fugen im Parkett“ beschäftigt sich mit verlorenen Seelen, die ihr Potential am Kneipentresen gegen kühlen Gerstensaft eintauschen. „Lob der Lüge“ handelt das Verdrehen der Wahrheit ab und ordnet das Prinzip des Lügens mit geradezu erschreckendem Scharfsinn in dessen gesellschaftlichen Kontext ein.. Es wird aber nicht nur beobachtet und bewertet. Auf „Patientenkollektiv“ rollen die Mitglieder ihre jeweilige psychische Krankheitsgeschichte auf und ziehen komplett blank. Als Gegengewicht zu all der Schwermut gibt es dann „Liebe Grüße“ mit Fatoni in Bestform. Antilopsche Misanthropie per excellence, wenn schmerzhaft zynisch geschildert wird, wie höflich sich unangenehmen Smalltalk-Situation mit unliebsamen Bekanntschaften entzogen wird.
„Anarchie und Alltag“ wird jeden zufriedenstellen, der nur ansatzweise etwas mit dem Schaffen der Antilopen Gang anfangen kann. Es geht höher, schneller, weiter – aber ganz in Ruhe. Nicht so verkopft, wie auf „Aversion“, nicht so klamaukig, wie „Abwasser“. Die Protagonisten bauen gezielt auf ihre Stärken, legen sich selbst keine Steine in den Weg und umschiffen potentielle Fehler geschickt. Statt auszuufern hält man sich lapidar, setzt Akzente dort, wo sie hingehören, und hat hörbar Spaß an der eigenen Musik.