Sido kann auf eine über zehnjährige Karriere zurückblicken. Mittlerweile hat der „Straßenjunge“ alles erreicht, was er sich je erträumt hatte. So gibt es auf seinem sechsten Album „VI“ natürlich einiges in retrospektiver Nostalgie aufzuarbeiten. Doch noch immer plagen den Mittdreißiger Probleme. Nicht nur, dass er „Zu Straße„, einfach „zu Ghetto für die Spießer“ in seiner vorörtlichen Nachbarschafts-Idylle ist, auch mit aufdringlichen Fans, die zu jeder Gelegenheit ein „Selfie“ oder ein Autogramm auf die Air Max fordern, hat Siggi zu kämpfen.
Neben diesen Banalitäten wartet „VI“ aber auch mit ernsteren Themen auf. Auf „Zu wahr“ spricht Sido alles aus, was seines Erachtens nach in der Welt verkehrt läuft. Dabei wird sich nicht zu wichtig genommen und der Versuch einer tiefer schürfenden Analyse gar nicht erst unternommen – was gut ist. Stattdessen wird der Hörer mit stichpunktartigem Elend bombardiert. „Zu wahr“ soll die Welt nicht verändern oder in irgendeiner Weise mit dem erhobenen Zeigefinger Aufklärung leisten. Der Song zum Nachdenken anregen, nicht mehr und nicht weniger.
„Wenn man vor lauter Hunger lang schon nicht mehr Hunger sagt
Kein Tropfen Wasser und kein Schatten hat bei 100 Grad
Jeder Fanatiker und jedes Kind ne Waffe hat
Und das im Namen von dem der uns alle erschaffen hat
Oder Flüchtlinge die Kurs nehmen auf Garten Eden
Aber nie mehr in ihrem Leben einen Hafen sehen“ (Sido – „Zu wahr„)
Das ist allerdings auch schon das gehaltvollste, was „VI“ zu bieten hat. Ansonsten wird viel an der Oberfläche gekratzt, was die allgemeine Belanglosigkeit des Albums aber kaum zu kaschieren weiß. „Vom Frust der Reichen“ handelt die Luxusprobleme der oberen Zehntausend ab und soll so auf die stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich verweisen – hätte allerdings auch innerhalb von vier Zeilen abgehandelt werden können. Denn außer dreieinhalb Minuten lang davon zu schwadronieren, dass die Golfschläger nicht in den Ferrari passen und man gerne besser in der Forbes Liste platziert wäre, kommt dabei nichts rum, was die allgemeine Marschrichtung des Songs weiterhin bereichert. „Gürtel am Arm“ seziert oberflächlich die Leiden des heroinsüchtigen Kevin, „Knochen und Fleisch“ handelt flüchtig Sidos Angst vorm Tod und die Schnelllebigkeit der menschlichen Existenz ab.
„Erst tauchen wir auf, kurze Pause zum Verschnaufen und dann bauen wir ein Haus
N bisschen später sind wir traurig und grau
Und wenn dann Zeit zu gehen ist, wird aus Staub wieder Staub“ (Sido – „Knochen und Fleisch„)
Da machen die Songs, die ganz unverhohlen leichte Kost darstellen, ohne mehr zu wollen, als sie letztendlich sind, doch die bessere Wahl. Als Highlight präsentieren sich dabei das vorab veröffentlichte „Ackan“ mit Dillon Cooper, was aber eher am Hunger und der technischen Versiertheit des jungen New Yorkers und dem authentisch westcoastigen Beat aus den Maschinen von DJ Desue liegt, als an der unmotiviert wirkenden Performance Sidos. Auf „Eier“ mit Schützling Estikay, dessen ignorant-selbstgefälliger Vortrag zu überzeugen weiß, hingegen blüht der Berliner auf – erstmal blitzt auch der typische Sido-Humor wieder auf. Die beiden besingen ihre enormen Hoden, die als gängige Metapher für Courage und Durchsetzungsvermögen stehen – Eier halt. Auch hier trägt DJ Desue am Drumcomputer einen Großteil zur Qualität des Songs bei.
Überhaupt macht das alteingesessene Produzententeam um Sido, bestehend aus DJ Desue, X-Plosive, Paul NZA, Marek Pompetzki und Cecil Remmler, im Produzentensessel eine hervorragende Figur. „Astronaut“ und „BoomBidiByeBye“ sind zwar lupenreine Popsingles, die unverhohlen Richtung Radio-Airplay marschieren, sind aber für das was sie sind noch relativ komplex und vor allem handwerklich hervorragend produziert. Die Chopp and Screw-Künste schaffen für „Gürtel am Arm“ eine dichte Atmosphäre, ohne die Sido ziemlich nackt darstehen würde. „Für Ewig“ wird mit einem stimmigen Low-BpM Sample-Beat in Szene gesetzt, der auch aus der MPC eines Large Professor stammen könnte. Hörbar viel wert wurde aber auf die Drums gelegt, die stets kräftig aus den Boxen wummern, sich aber nie in den Vordergrund drängen. So gelingt „VI“ der Drahtseilakt aus puristischem HipHop und der Marschrichtung „Radio und Platin-Platte„.
Trotz der hervorragenden Produktionen und gelegentlicher Lichtblicke präsentiert Sido sich auf „VI“ viel zu harmlos. Die potentiell gehaltvollen Themen werden nur kurz angeschrammt und ohne Blick fürs Wesentliche herunter gebetet, die übrigen wurden zu lieb- und humorlos behandelt. Ein wenig scheint der wohlhabende Sido zwischen den Stühlen zu stehen – und übersättigt. Wenn es nichts zu erzählen gibt, müssen eben die Wohlstands- und Weltprobleme her. Das hört sich jetzt leider genau so banal an, wie es im Endeffekt ist. „VI“ ist eine hervorragend produzierte Belanglosigkeit, die nur funktioniert, wenn man keine anderen Ansprüche hat, als einfach mal wieder Sido rappen zu hören.