Weiße Tränen gegen schwarze Leben – die Reaktionen auf Black Lives Matter

„Hey! Aber wir Weißen sollten auch nicht erschossen werden!“ – „Schwarze werden aber nicht nur von Polizisten erschossen, sondern viel öfter von anderen Schwarzen selbst!“ – „Hey, es ist 2016! Wir sind doch alle gleich viel wert! Wozu noch so ein Umdrehungs-Rassismus, der Weiße ausschließt?“

So lassen sich die Reaktionen auf das Video zusammenfassen, welches LMNZ, Berliner Rapper, Produzent und Videomacher, vor rund einer Woche über die Plattform von mit ihm befreundeten Berlinern (Dont Let The Label Label You / 30.000 Abonnements auf YouTube) veröffentlichte.

„Black Lives Matter“ heißt der Song zum dazugehörigen Video, und präsentiert 13 verschiedene Rapperz/Sängerz mit unterschiedlichen ethnischen, sprachlichen und nationalen Hintergründen, die sich zu diesem Thema unter den Slogan der US-amerikanischen Protestbewegung Black Lives Matter stellen.

 

Um zu verstehen, warum die meisten der oben beschriebenen Kommentare ignorant und latent bis offen rassistisch sind, oftmals ohne das bewusst zu wollen oder zu verstehen, versuche ich im Folgenden einen größeren Überblick zu schaffen. (Eigentlich hatte ich gehofft, das wäre überflüssig, vor allem, wenn man sich aufmerksam das Video anschaut und aufmerksam zuhört, aber… OK.)

Um allein den Titel „Black Lives Matter“ und die dazugehörige Protestform zu verstehen, benötigen wir als Konsumierende schon Verständnis auf drei verschiedenen Ebenen:

1. Sprachlich – Was soll das eigentlich heißen?
2. Aktuell und tagespolitisch konzeptualisiert – Woher kommt der Spruch? Wer benutzt ihn sonst noch?
3. Geschichtlich – Weshalb kommt dieser Spruch im Jahre 2016 auf und was sind die Zusammenhänge in die Vergangenheit hinein?

Here we go:

1. Eine Person, die ungebildet, ignorant oder deren Ego verletzt ist, möchte sich „Black Lives Matter“ eventuell so in die deutsche Sprache übersetzen: „Die Leben von Schwarzen sind wichtig“, und schwups haben wir eine klassisch-trotzige Reaktion vieler weißer Menschen.
Doch so ist das bei Übersetzungen: immer schwingt auch das mit, was derjenige/diejenige verstehen will und verstehen kann, der/die übersetzt.
Eine, meiner Meinung nach, treffendere Übersetzung des Slogans wäre: „Die Leben von Schwarzen Menschen sind nicht egal!“, alias: „sollen nicht egal sein!“, oder: „Schwarze Leben zählen (auch)“. Das „auch“ in meiner letzten Übersetzungsvariante bringt uns zur nächsten Verständnisebene.

2. Wer kann sich daran erinnern, wann das letzte Mal ein unbewaffneter, hellhäutiger US-Amerikaner (in fast allen Fällen Männer), ein Nachkommen europäischer Einwanderer/innen auf den Nord-amerikanischen Kontinenten, den wir unvorsichtig als „Amerika“ bezeichnen, erschossen wurde, dabei von Kameras gefilmt wurde, diese Filmaufnahmen veröffentlicht wurden und es dennoch zu keiner strafrechtlich relevanten/gewichtigen Folge für den Erschießenden kam? …wann? Mir fällt kein Fall ein. Mir fallen aus den letzten Jahren einige Fälle ein (nur ein paar der prominentesten Namen, um per Suchmaschine auf die Spuren zu gehen für all diejenigen, die es verpasst haben: Oscar Grant, Mike Brown, Trayvon Martin). Der Schlachtruf „Black Lives Matter“ richtet sich also konkret an den Umstand, dass Schwarze (und auch nichtschwarze Menschen, denen nicht alles egal ist) in den USA den Eindruck haben, was Strafverfolgung angeht, werde mit zweierlei Maß gemessen: schwarze Opfer zählen weniger, und selbst wenn die Tötungen schwarzer Menschen medial dokumentiert sind und im Internetzeitalter überall gesehen werden können, passiert meistens kaum irgend etwas als Folge dieser bewussteren oder unbewussteren Fehlleistungen öffentlicher Amtsträger (auch hier meistens Männer). Und das ist auch der Unterschied zum sogenannten Black-on-Black-Crime, was von vielen Kritiker/innen der BLM-Bewegung öfters mal angeführt wird: Dass Schwarze andere Schwarze ermorden, ist hinlänglich bekannt. Dass das oft aus dummen Gründen wie Ego-Problemen oder Revierstreitereien beim Drogenverkäufen passiert, ist auch bekannt. Dass das aber eben strukturelle Gründe hat, und dass das nicht die Fälle sind, die multimedial überall ausgestrahlt und skandalisiert werden, ist eben genauso offensichtlich! Und genau das macht den Unterschied aus. So ist es gerade zu zynisch darauf hinzuweisen, „die Schwarzen“ sollten sich quasi erstmal um die Übeltäter (fast immer Männer) in den „eigenen Reihen“ kümmern. Die Polizeigewalt und die Situation der schwarzen Ghetto-Bevölkerung stehen doch gerade in einem Zusammenhang! (Dazu, und dazu wie es seine Gründe haben kann, warum weiße Polizisten mehr Angst vor schwarzen Verdächtigten haben als vor weißen, an anderer Stelle vielleicht mal noch mehr, das würde hier zu weit führen. Schaut euch zwischenzeitlich mal „The Wire“, HBO-Serie, an oder lest die Autobiographien von Malcolm X oder Mumia Abu-Jamal).

3. Menschen, die als weiß gelten, und Menschen, die als schwarz gelten, haben in den USA seit so ca. 60 Jahren die gleichen Rechte, auf dem Papier. Die empirischen Fakten über das Leben der Menschen sprechen eine Sprache der sozialen Ungleichheit. Hier könnte lange darüber philosophiert werden, wer daran Schuld ist, ob es nur die Weißen von damals sind, oder auch die Weißen von heute, oder vielleicht sogar auch die Schwarzen ein bisschen selbst, oder Kanye West oder George Bush oder die Illuminaten. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass es so ist, und dass das alles eine Konsequenz dessen ist, wie hellhäutige, aus Europa in den Westen segelnde Menschen (die oft in Europa selbst, aufgrund ihrer Religion oder Ethnie mehr oder weniger verfolgt waren) sich Menschenmaterials aus Afrika „bedienten“ (um es euphemistisch auszudrücken), und mit Hilfe dieser brutalen Versklavung den Reichtum des weißen Amerikkkas aufzubauen, die zuvor dort lebenden Menschen zu vertreiben und zum wirtschaftlich mächtigsten Staat dieser Welt zu werden. Fast alle Menschen, die in den USA als „Afro-Amerikaner/innen“ gelten, leben heute dort, weil ihre Vorfahren gegen deren Willen verschleppt, vergewaltigt, verkauft und ausgebeutet wurden. Allein deshalb haben Schwarze schon ein ganz anderes historisches Verständnis dazu, wie sie sich in den USA wohl fühlen, als Weiße das haben (können). Mal davon abgesehen, was die letzten 60 Jahre noch alles passierte, kann also niemand einfach von einem „Hey, es gibt auch schwarzen Rassismus gegenüber Weißen“ gesprochen werden, ohne sich als ignoranter Vollhans zu orten. Diese Unterdrückungserfahrung spiegelt sich nicht nur institutionell, sondern auch psychologisch und kulturell immer noch in der Nord-amerikanischen „Seele“ wider. Auch mit dieser Geschichte im Rücken schreien die Black Lives Matter-Demonstrierenden, die sich gegen die nicht juristisch verfolgten Tötungen schwarzer US-Amerikaner/innen wehren wollen: Schwarze leben sollen endlich nicht mehr so verdammt egal sein! Erinnern wir uns an dieser Stelle an ein Glanzlicht Kanye Wests früher Medienkarriere, als er anlässlich der späten und geringfügigen Hilfe aus Washington für die überschwemmten Gebiete an der Südküste der USA fest stellte: „George Bush (damaliger Präsident) doesn’t care about black people“ – Bäms. Punchline. Auch Mos Def versuchte mit „Katrina Klap“ darauf aufmerksam zu machen, sogar bei den damalig stattfindenden MTV-Award, auf einer unangemeldeten Outdoor-Bühne, bis die Polizei kam und ihn ein schwarzer und ein weißer Officer in Handschellen abführten, als er nicht aufhören wollte, zu rappen. Auch vor ein paar Wochen konnte darüber gerätselt werden, wie sehr die Menschen, die in ärmeren Gegenden leben, und von denen dann die überwiegende Mehrheit schwarz, der Regierung am Herzen liegt: die Stadt Flint bekam Wochenlang kein sauberes Wasser und es schien kaum jemanden auf Regierungsebene zu kümmern (u.a. vom New Yorker Vorzeige-Conscious-Rapper Talib Kweli via Twitter thematisiert).

Warum sah ich mich dazu genötigt, all das aufzuschreiben?

Wenn ich diese Diskussionen unter Videos mitbekomme, in denen es um Support für die Trump-Kandidatur geht, oder sich sonstige Internet-Amis über diese „Gangster“ der BLM-Bewegung echauffieren, dann stört mich das auch. Manchmal misch ich mich als mitteleuropäisches Weißbrot sogar dort ein. Meistens denke ich mir aber: „Ja, weiß ich schon, die Welt ist kaputt, rassistisch und ignorant, die Menschen sind dumm“.

Wenn das ganze aber in der HipHop-Szene passiert, dann streife ich das nicht ganz so kühl und lässig ab und überlasse die politische Arbeit oder journalistische Einbettung nur anderen, nein, dann fühle ich mich selbst angegriffen und in der Position, hier Stellung zu beziehen und meine Perspektive zu teilen.

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