Auge auf Deutschrap-Journalismus #1

Oft genug haben wir bei rap.de die Kritikunfähigkeit deutscher Rapper kritisiert. Unsere Überzeugung, dass Kritik nichts schlechtes ist, sondern im Gegenteil etwas produktives sein kann, sofern sie konstruktiv ist, bezieht sich aber nicht nur auf Künstler. Auch das, was wir Journalisten selbst fabrizieren, kann und muss kritisiert werden. Da wir uns aber an dieser Stelle nicht selbst beurteilen und dies auch nicht nur polemischen Kommentatoren in allen möglichen sozialen Medien überlassen wollen, tut dies ab heute an dieser Stelle Thomas Becker in seiner Kolumne. Er war früher Autor bei meinrap.de und betreibt seit kurzem den Blog Do-Rap.net, in dem er sich kritisch mit dem Schaffen deutscher Rapjournalisten auseinandersetzt. Die Redaktion hat auf seine Auswahl und seine Kriterien keinen Einfluss, daher bilden seine Kolumnen auch nicht zwingend unsere Meinung ab. 

Analyse des Interviews von Oliver mit Crackaveli

Bisher ging es in meiner Arbeit hauptsächlich um die Analyse von Textartikeln und folglich um das Aufspüren von Clickbaits, Social-Media-Reposts, versteckter Werbung etc. In der Kritik steht heute ein Videointerview, das Oliver mit dem Rapper Crackaveli im Rahmen des bald erscheinenden Albums „L.O.S.“ geführt hat. Titel des Artikels sowie des YouTube-Videos: „Crackaveli über „L.O.S.“, Stress, Jugend, Straße, Erziehung, Berlin, Landleben [u.v.m.]“.

Da die analytisch-kritische Arbeit im Sinne eines musikbezogenen Journalismus verrichtet und dabei kompakt gehalten werden soll, zähle ich im Folgenden alle mir relevant erscheinenden Redeanteile von Oliver auf. Im Anschluss bewerte ich diese im Hinblick auf ihre Ergiebigkeit. Wir könnten vorab annehmen, dass der er das Album, um das es u.a. geht, vor dem Interviewtermin nicht zwingend gehört haben muss. Oliver selbst sagt aber (ab ca. 5:00), dass er zwei Drittel von „L.O.S.“, welches 16 Anspielstationen umfasst, gehört hätte. Das heißt, neun bis elf Tracks könnten im Interview zum Thema werden.

Der relevante Inhalt

Oliver stellt in Bezug auf Crackavelis Musik bzw. Album sinngemäß folgende (thematisch gruppierte) Fragen bzw. formuliert Aussagen/Feststellungen:

• zur Themenauswahl und dessen Problematik [1:37], zum Thema des ersten Tracks „Mama weiß nicht“/„M.W.N.“ [7:41], zum Titeltrack „L.O.S.“ und zur Bedeutung der Abkürzung [11:27], zu zwei Aussagen/Zeilen auf „L.O.S.“ [18:34; 21:29], zur Herkunft des Tracktitels „Mary Katrin“ [26:17]
• zur Vortragsweise („Du gehst immer sehr nach vorne … Es ist jetzt nicht irgendwie: laid back, so, der alte Mann erzählt von früher…“) [4:47]
• zur Charakteristik der Beats („diese trappigen Sachen“, „diese Downsouth-Beats“) [6:54], zu den Produzenten der Beats [25:43]
• zu den Feature-Gästen auf dem Album [23:42], zu einem der Feature-Parts (Capo) [25:15]

Oliver geht also ein auf: die Bedeutung zweier Tracktitel, den Opener des Albums (wertend), zwei Aussagen in den Songs, die Features, den Part eines Features (von 24) (wertend), die Charakteristik einiger Beats und deren Produzenten. Den Rest des Interviews beansprucht Oliver dafür, in Erfahrung zu bringen, wie Crackaveli über seine Anfänge bei Shok Muzik denkt, ob er sich jung oder alt fühlt, wie Crackaveli seine Kinder erzieht, ob er stressfrei in Berlin leben kann, ob und wie er für längere Zeit woanders gewohnt hat, wie er mit Vorurteilen und Klischees umgeht, was Vertrauen für ihn bedeutet und welche Projekte für die Zukunft anstehen.

Filterung

Zunächst können wir Fragen nach Features und Produzenten ‚ignorieren‘, da diese ohnehin spätestens via Album-Booklet etc. veröffentlicht werden. Man kann sie kaum als journalistische Eigenleistung deklarieren. Des Weiteren fragt Oliver nach den Themen des Albums (im Wesentlichen), nach Titelbedeutungen – und -herkünften und nach der Haltung zu zwei Einzeilern auf „L.O.S.“: Er entwickelt im Interview kaum weiter- oder tieferführende Fragestellungen auf Basis seiner Hörerfahrungen.

Gewissermaßen bewertend oder assoziativ spricht er über die allgemeine Ästhetik einiger Beats, Crackavelis Vortragsweise, den erfrischend-direkten Einstieg in die Materie des Albums mit dem Opener „M.W.N.“ und Capos Feature-Part, der laut Oliver zu einem „richtig starken Song“ beiträgt. Dies sind primär die für mich journalistisch relevanten Momente des Interviews.

Auswertung

Das heißt, dass Oliver nicht annähernd auf die gehörten zwei Drittel des Albums eingeht. Interviewthema wird nicht: Die Musik-Produktionen im Detail sowie sechs, sieben weitere Tracks zu je angenommenen klassischen zwei Strophen á 16 Zeilen. Sprich, eine Menge textliche bzw. inhaltliche und musikalische Reflexionspotentiale wurden liegengelassen. Optional hätte man auf das Artwork des Albums, der Videos usw. eingehen können.

Die von Oliver eingeforderten Antworten und Erzählungen Crackavelis, die sich nicht um die Musik drehen, sind grundsätzlich nicht problematisch oder irreführend in dem Interview. Es ist sogar durchaus begrüßenswert, Biographisches bzw. Persönliches von sich preiszugeben. Und gewissermaßen kann man von einem Journalisten auch erwarten, dass er oder sie diese dem Künstler – wenn auch nicht zu forsch – entlockt und bspw. spontan mit der musikalischen Persönlichkeit desselben verknüpft. Unter diesem Aspekt wusste Oliver, ein entspanntes Gespräch mit Crackaveli zu führen.

Wo ist nun das Problem?

Ich lehne mich dennoch weit aus dem Fenster und sage, bewusst allgemein gehalten: Ein neues Album wirkt wie ein Vorwand dafür, einem weiteren Künstler – vor allem nach längerer Zeit – Fragen zu seinem persönlichen Werdegang zu stellen, ihm hie und da Meinungen über andere Rapper bzw. die Szene und vor allem Privates zu entlocken, was die Neugier des Zuschauers weckt und stillt. Letzteres ist ebenso wenig ein Problem wie das Plaudern aus dem Nähkästchen – Entertainment in allen Ehren. Nur leider findet dies keine wirkliche Anwendung auf die Inhalte des Albums – und diese wiederum finden keine Anwendung auf und durch den Interviewer.

Bevor es zum Fenstersturz kommt: Ich bin mir im Klaren, dass ein Interview zum Album nicht einer Review gleichen soll. Dennoch kommt der Musik-Journalist bei Oliver meines Erachtens gar nicht zur Geltung. Weder wird – Nerdtalk, go: – die Kompilation oder die Dramaturgie des Albums angesprochen, noch auf den Rap-Stil, die Reimstrukturen oder die stilistischen Veränderungen seit der letzten Veröffentlichung eingegangen. (Weitere) Themen oder Querverweise finden ebenfalls nicht statt.

Die Asymmetrie der Gesprächsanteile trägt dazu bei, dass dem Dialog eine Menge Dynamik abgeht. Oliver hätte sich hier stärker oder öfter einbringen und kraft seiner Expertise im Vorfeld Horizonte eröffnen können, mit denen das Album von Crackaveli aufwartet. Dabei bleibt offen, wie viel Zeit er für das Hören des Albums hatte. Seine Aussage, er hätte zwei Drittel des Albums gehört, war in diesem Fall eine Art Steilvorlage – für diese Kritik.

Unabhängig davon hätten auch die Crackaveli betreffenden Themen bspw. vergesellschaftlicht werden können. Als gut empfand ich Olivers Eingehen auf Klischees und soziale Zuschreibung, ich mit meinem soziologischen Hintergrund hätte den Etikettierungsansatz angesprochen. Mir persönlich liegt nicht vor, welche Vorbildung Oliver genossen hat, jedenfalls hätte diese dem Interview eine (neue) Richtung geben können. Ansonsten weist es in puncto Musikrelevanz eine Inhaltsarmut und willkürlich-uninspirierte Führung durch Oliver auf, der – qualitativ jedoch angemessene – Boulevard-Teil beansprucht zu viele der 30 Minuten.