N.O.R.E.

Das sicher berühmteste Zitat von Chuck D., mit inzwischen zugegebenermaßen extremem Gähnfaktor, lautet, daß MCs "die CNN-Reporter des HipHops" seien. Mit dieser Formulierung wollte der Public Enemy-Vordenker verbildlichen, daß die politische und soziale Situation der Schwarzen in Amerika zum hauptsächlichen Thema der Rapper gemacht werden sollte. In den ausgehenden 80er Jahren ein aufrüttelnder, für manche (Angehörigen der Partyrapfraktion) ein revolutionärer Gedanke. Aber prägt er nicht genau den heutigen HipHop-Mainstream? Gangsta Rap.

Eben genauso unpolitisch wie die Politik in den 90ern, genauso unsozial wie die Gesellschaft. Und entsprechend einem Peter Garnett, der im Golfkrieg vom Hoteldach live für CNN sendetete, während ihm links und rechts die Cruise Missiles um die Ohren flogen, so berichtet der MC (vorzugsweise: Ex-Gangster) "direkt vom Schlachtfeld", sprich: der aufgegebenen amerikanischen Innenstadt. Nichts zählt, außer den hinlänglich bekannten Statussymbolen. Natürlich gibt´s auch hier massenweise Poser, aber auch das zeichnet eben die moderne Gesellschaftsstruktur aus, und läßt das Bild umso realistischer erscheinen.

…ein Bild des Lebens auf der Straße…

Im Jahr ’96 kam die Gruppe Capone’N’Noreaga mit ihrer ersten Single "L.A., L.A.", der Ostküsten-Antwort auf "New York, New York" des Dogg Pound heraus. Auf diese Single folgte direkt das Debütalbum "The War Report". Das Duo der beiden Rapper Capone und Noreaga, die sich abgekürzt CNN nannten, präsentierte uns "klassischen" Gangsta Rap im New York Style. Auf den ersten Blick hatten die Crew und der weltbekannte Nachrichtensender außer der Abkürzung nicht viel gemeinsam. Die Texte der LP waren knallharte Battle-Lyrics, die von objektiver Berichterstattung meilenweit entfernt waren. Nun ist es aber um die Objektivität von Nachrichtensendern auch nicht immer rosig bestellt.  Das Image des amerikanisch-irakischen Krieges in der westlichen Welt, nämlich das eines präzisen, chirurgischen Eingriffs, bei dem nur Gebäude und fanatisierte, und daher wertlose Soldaten der "Republikanischen Garde" bombardiert wurden, spricht eine deutliche Sprache (Wörter wie "Weiche Ziele" für getötete Menschen wurden von den TV-Stationen verbreitet und geprägt, erinnert Ihr Euch?). Vor dem inneren Auge des "War Report"-Hörers entstand jedoch über die Härte und Aggressivität ein Bild des Lebens auf der Straße, das die Verhaltensmuster vieler junger Afroamerikaner in den USA wiedergab.

 …Literatur über die Protagonisten des internationalen Kokainhandels…

Ein Leben, das Geschichten schreibt, wie die Victor Santiagos ("Noreaga"). Bereits seine Kindheit war von Kriminalität geprägt – im Alter von acht Jahren (!) begann er als Helfer für Crackdealer zu arbeiten und ’91 wurde er, mit dreizehn, für versuchten Mord zu dreieinhalb Jahren Besserungsanstalt, dem berüchtigten Boot Camp, verurteilt. Danach saß er, diesmal wegen eines Drogendelikts, im New Yorker Gefängnis Greenhaven ein, wo er Kiam Holley ("Capone") kennenlernte, der aus demselben Grund eine Haftstrafe verbüßte. Der Schulabbrecher Victor (das Aus kam nach der siebten Klasse) schlug hier einen Weg ein, auf dem erstaunlicherweise so viele Kriminelle zu Rappern geworden sind. Er zog sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, eine Tatsache, die viel Respekt verdient (sie sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, daß die meisten Verbrecher durch das Justizsystem nicht gerade oft resozialisiert werden). Wie auch Malcolm X begann er in seiner Knastzeit zu lesen, anstatt z.B. stumpf Gewichte zu stemmen. Der Eifer, den er dabei entwickelte, ging soweit, daß er den Gameboy seines kleinen Bruders während eines Besuchs in seine Zelle einschmuggelte, um die Lichtquelle des Displays zum Lesen unter der Bettdecke zu verwenden. Im Gegensatz zu Malcom X verschlang er jedoch keine Literatur über allgemeine Politik, sondern über die Protagonisten des internationalen Kokainhandels. Hauptschwerpunkt seines Interesses war dabei die Geschichte des panamaischen Diktators Noreaga, der von den USA gekidnappt und wegen Drogenhandels verurteilt wude. Diese (irgendwie ziemlich absonderlich ausgerichtete) Lesewut war natürlich der Grund, warum er dann den Spitznamen Noreaga verpaßt bekam.

…das Werk wurde ein Underground-Klassiker…

Als die beiden wieder auf freiem Fuß waren, begannen sie mit der Produktion einer Platte. Noch während der Aufnahmen des Albums wurde Capone wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz verurteilt, und da er prompt auch gegen Bewährungsauflagen verstieß, mußte er direkt zurück in den Knast. Hier brummt er bis Oktober diesen Jahres seine Strafe ab. Das Album war schon fast fertig – Noreaga produzierte es zu Ende und machte die Promo alleine. Das Werk wurde ein Underground-Klassiker und es kehrte Stille ein um das Duo.

Jetzt hat sich Nore mit einem Soloalbum zurückgemeldet, das es in sich hat. Produziert wurde es von diversen Größen des Geschäfts wie den Trackmasters, Nasheem von Bad Boy Entertainment, DJ Clue und Marley Marl. Auch die Liste der Gastauftritte ist (natürlich) imposant. Von Busta Rhymes über The Lox, Big Pun, Nas Escobar bis hin zu Kool G Rap. Die Texte sind dieselben Battle-Rhymes geblieben, die auf "War Report" überwogen. Der Titeltrack N.O.R.E. steht für Niggers On The Run Eating, wobei sich mir die Bedeutung des Titels verschließt, vielleicht kommt Ihr ja drauf. Ein fett produziertes HipHop-Album eines begnadeten MCs. Daß die Inhalte, die er uns mitteilen will, nicht gerade fröhlich-freundlich sind, ist bei seiner Vergangenheit nur allzu schlüssig. Tatsache ist, daß das Album die brutale Realität in den nordamerikanischen Ghettos widerspiegelt, in der Kinder zu Mördern werden, weil ihr Umfeld unfähig ist, ihnen eine behütete Kindheit zu gewähren.

Traurig aber wahr – vielleicht wahrer als ein CNN-Bericht.