„Ich finde, es ist ’ne völlige Anmaßung, von sich selbst zu behaupten, man ist Künstler“, entgegnet der Herzbube Morlockk Dilemma unserem Redakteur Skinny bei einem trauten Sommerspaziergang. Dieses Statement begründet er mit der Plattitüde, dass „Kunst im Auge des Betrachters“ läge. Hat er mit dieser bescheidenen Behauptung recht? Oder muss man die „Was-ist-Kunst?-Debatte“ nicht in einem viel größeren Kontext betrachten?
Ich plädiere für letzteres – und möchte Morlockks Künstlerverständnis etwas kritischer beleuchten, da ich seine romantische Vorstellung von Kunst nicht teile. Natürlich wäre es schön, wenn jeder Mensch einen eigenen Sinn für Ästhetik hätte und individuell entscheiden könnte, was er oder sie als Kunst erachtet. Doch das ist nicht die Realität.
Meine These lautet: Kunst liegt nicht im Auge irgendeines Betrachters, sondern in den Händen der Mächtigen.
Der Soziologe Pierre Bourdieu konnte eindrücklich nachweisen, dass der (Kunst-)Geschmack immer gesellschaftlich bedingt ist. Die Schicht, aus der du stammst, gibt vor, wie du die Welt wahrnimmst und somit auch, was du unter Kunst verstehst. Einfach gesagt: Du wirst in eine Schicht geboren, verhältst dich deiner Schicht entsprechend und bleibst ein Leben lang in ihr verhaftet. (Ja, es gibt Ausnahmen, aber der soziale Aufstieg durch Leistung ist meist ein Mythos. Auch wenn Kollegahs Alpha-Armee etwas anderes behauptet.)
Die Elite bestimmt, was „guter“ Geschmack ist.
Bourdieu unterscheidet zwischen drei verschiedenen Geschmäckern, die jeweils in einer Schicht dominieren. An der Spitze steht die Oberschicht, die über den sogenannten legitimen Geschmack verfügt. In der Hierarchie weiter unten steht das Kleinbürgertum mit seinem „prätentiösen bzw. mittleren“ Geschmack, der sich durch seine „Möchtegern-Nähe“ zum Lifestyle der Reichen auszeichnet. Am Ende der Nahrungskette steht die Volksklasse, die vom „illegitimen“ Geschmack geprägt ist, der sich überwiegend am Notwendigen und Pragmatischen orientiert und meilenweit vom „guten“ Geschmack der Elite entfernt ist.
Und jetzt kommen wir auch schon zum eigentlichen Problem: Da Kunst als etwas erachtet wird, das über das „Funktionale“ und „Pragmatische“ hinausgeht, werden die unteren Klassen kategorisch ausgeschlossen, wenn es um die Kunstdebatte geht. Schließlich verfügen sie ja nur über einen pragmatischen, schlichten Geschmack, der nur am „Einfachen“ und „Zweckmäßigen“ orientiert ist, nicht aber am ästhetisch Hochwertigen.
Die Angehörigen der oberen Schichten geben vor, welcher Stil geschmackvoll und somit erstrebenswert ist. Das ist auch der Grund, warum viele Rapper*innen sich am exklusiven Geschmack der Upper Class orientieren, indem sie deren Statussymbole zur Schau stellen (Rolis, Pateks, Rolls-Royce Dropheads).
Und wenn genug Menschen die Marken der Reichen für sich entdeckt haben, suchen sich die Bonzen wieder neue Marken, um sich vom Pöbel abzugrenzen. So funktioniert Gesellschaft. Die privilegierten Schichten haben also Wege gefunden, ihren sozialen Status zu erhalten, wodurch sie locker easy den Rest unten halten können.
Was Kunst ist, lernst du an der Uni!
Das wird am Kunstbegriff besonders deutlich: Kunst ist nämlich der Schlüssel, um sich immer wieder aufs Neue von den niederen Kasten abzuheben. Das erreicht man dadurch, dass man einfach innerhalb seiner „herrschenden Klasse“ definiert, was Kunst ist. Wer nicht über das nötige Wissen verfügt, gehört nicht zur Oberschicht.
Wenn also die Unterschicht auf die verrückte Idee kommen sollte, selbst definieren zu wollen, was Kunst ist, dann denkt man sich einfach eine neue Bedeutung aus. Nochmal: So funktioniert Gesellschaft.
Die Uni ist hierbei eine sehr wichtige Institution, um das Wissen über Kunst exklusiv halten zu können. Ausschließlich Künste, die man studieren kann, werden nämlich als ernst zu nehmend eingestuft. Studiengänge wie Gesang, Musikwissenschaft oder Bildende Künste stellen einen Versuch dar, die Deutungshoheit der bildungsbürgerlichen Elite im Bereich der Kunst zu erhalten.
Dort lernen Studierende, meist aus Akademikerfamilien, Kunst in eine wissenschaftliche Sprache zu übersetzen. Man verwendet schlaue Begriffe, die dem Großteil der Gesellschaft verwehrt bleiben.
Somit wird prinzipiell jede Person aus der „Was-ist-Kunst?-Debatte“ ausgeschlossen, die nicht in den Genuss einer höheren Bildung gekommen ist. Wenn man bedenkt, dass von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 74 ein Studium beginnen und von 100 Kindern aus Familien ohne studierte Eltern dagegen nur 21, kann man sich wohl denken, welche Gesellschaftsschichten wohl am ehesten im Kunststudium anzutreffen sind.
Aber hey! In Großbritannien nimmt man HipHop jetzt richtig ernst. Man kann dort sogar Rap studieren. Also zumindest jeder Mensch, der 12.300 Euro locker machen kann. Nun können wohlhabende Kids diese Kunstform studieren, eigene, kluge Wörter erfinden, die keiner außer ihnen versteht und schließlich wieder die unteren Schichten ausgrenzen. Das ist HipHop, Alter!
Mero, Fero47 und Sero el Mero sind keine Künstler?
Wie sehr die privilegierten Schichten das Geschehen im Deutschrap beeinflussen zeigt sich gegenwärtig am Erfolg bestimmter Straßenrapper. Man amüsiert sich über die Meros, Feros und Sero el Meros und bemüht sich, ihnen den Erfolg abzuerkennen. Man versucht ihnen nachzuweisen, dass ihre enormen Klickzahlen gekauft wären. Unterstellt ihnen, dass es keine Kunst sei, solche Hits zu schreiben. Zusätzlich seien die Texte billig und drehten sich ständig um dieselben langweiligen Themen. Es gehe scheinbar nur darum, schnelles Geld durch Modus Mio zu machen. Und natürlich ist das eh alles nur Musik für kleine Kinder.
In diesen Debatten kommt sie zum Vorschein: Die Macht der privilegierten Schichten, die nun mit aller Kraft versuchen sich vom (illegitimen) Massengeschmack abzugrenzen. Man belustigt sich über den hohen musikalischen Output eines Capital Bras und wertet seine Kunst ab, weil Charterfolge am laufenden Band nichts mit stilvoller Kunst am Hut haben können. Alles, was man massenhaft produziert, wird massenhaft konsumiert, ist also leicht zugänglich für alle, was den privilegierteren Schichten jedoch gar nicht schmeckt.
So sucht man sich wieder neue Nischen, in denen man sich kulturell erhaben fühlen können. Jenseits des „illegitimen“ Geschmacks der Volksklasse. Man möchte lieber Qualität statt Quantität, sodass man sich wieder relativ unbekannte, unverbrauchte und künstlerisch hochwertige Artists herauspickt (z.B. OG Keemo), die man dann in der HipHop-Journalistenblase zelebrieren kann. Natürlich feiert man sie nur so lange, bis auch sie von der Masse entdeckt wurden. Wie bereits mehrfach gesagt, so funktioniert Gesellschaft.
Kunst hat emanzipatorisches Potenzial
Kunst ist ein Begriff, der die unteren Schichten kategorisch ausschließt. Damit ist sie ein Machtinstrument der höheren Schichten, die diesen Begriff für sich gepachtet haben und dadurch ihre Überlegenheit ausdrücken können.
Somit kann man es als einen emanzipatorischen Akt der unteren Schichten begreifen, dass sie selbstbewusst zu ihrer Rolle als HipHop-Künstler*innen stehen. Sie begeben sich damit auf ein Terrain, das eigentlich für die ökonomischen und kulturellen Eliten reserviert ist.
Die Anerkennung als Künstler*in ist ein Aufstieg innerhalb der Gesellschaft. Künstler*innen haben in unserer Gesellschaft einen besonderen Status und genießen ein hohes Ansehen. Rapper*innen, die aus den unteren Schichten stammen und sich durch Musik nach oben gerappt haben, sollen sich somit auch als Künstler*innen bezeichnen dürfen. Es ist ihr Recht.