XXXTentacion ist einer der spannendsten und talentiertesten US-Rap-Newcomer aus den letzten Jahren, der nicht nur aufgrund seiner künstlerischen Exzellenz eine kleine Einleitung verdient.
Die Sonnenseite:
20-jähriger Rap-Superstar und der mit Abstand erfolgreichste XXL Freshmen aus dem letzten Jahr, der für ca. sechs Millionen Dollar bei Caroline Records (Sublabel von Universal) unterschrieben hat und mit seinem neuen Album „?“ in der ersten Woche über 130k Einheiten verkaufen konnte, was ihm die Poleposition in den Billboard Charts bescherte.
Sein Vorgänger-Projekt „17“ (88k Einheiten in der ersten Woche und Platz 2) sorgte 2017 für große Überraschung: XXXTentacion, der sich als Newcomer der Soundcloud-Wave aus Florida einen Namen mit brachialen Trap-Bangern und übersteuerten 808-Bässen machte (Breakout-Hit: „Look at me“), debütiert mit einem Projekt, das man als Emo-Folk-Trap bezeichnen kann, auf dem kaum gerappt, dafür aber wunderschön gesungen wird und katapultiert sich damit in den Mainstream. Wenige Monate später wird der besagte Major-Labeldeal unterschrieben und X zum Multimillionär.
Auf der Schattenseite:
Ein laufender Prozess mit diversen Anzeigen wegen häuslicher Gewalt und mittlerweile auch noch Manipulation von Zeugen. Im September 2017 veröffentlicht Pitchfork Auszüge aus der Anklageschrift, bei denen man sich fragt, ob man gerade versehentlich in ein Drehbuch eines FSK18 Psychothrillers geraten ist.
Fairerweise: Der Prozess läuft bis heute und ich bin der letzte, der einen Menschen zu Unrecht verurteilen will. Ebenfalls fairerweise: Die Rechtsanwälte der US-Majorlabels zeigen immer wieder, dass sie ALLES können und retten quasi im Wochenrhythmus irgendeinen Rapstar aus Gerichtsprozessen, bei denen jeder Normalsterbliche Lebenslang kassieren würde.
Wie auch immer; das alles sei der Vollständigkeit halber angefügt. Ich glaube, man sollte die Anklagen bei der Rezeption von XXXTentacions Musik im Hinterkopf behalten. Die Frage, inwiefern es legitim ist, Kunst von moralisch nicht zu rechtfertigenden Menschen zu konsumieren (Darf man Kunstwerke von Hitler mögen?), drängt sich auf, soll an dieser Stelle aber nicht das Thema sein.
Die Musik
„?“ lässt sich musikalisch nicht auf ein Genre reduzieren, sondern erweitert das Soundbild von „17“ und bewegt sich von trappigen Popsongs über pathetischen Rock, Boom Bap, spanischem Beachparty Reggae bis hin zum Screamo-Trap-Banger. Diese Zusammenstellung und Breite ist wenigstens im Rapgame recht neuartig. Man könnte hier geneigt sein, das Projekt vorschnell als Mixtape zu klassifizieren.
Aber X zieht den roten Faden einfach nicht auf musikalischer, sondern auf inhaltlicher Ebene. Das Themen Liebeskummer, Schmerz und Ohnmacht durchlaufen alle Songs. Durch die musikalische Vielfalt schafft er es, Stimmungen und Facetten seines Innenlebens abzubilden, die innerhalb eines musikalisch schmaler gefassten Rahmens wohl schwerlich zum Ausdruck kommen könnten. Das macht das Album auf jeden Fall sehr eigen. Inwiefern so eine Stil-Collage zukunftsweisend sein kann, wird sich zeigen.
Genauso spannend sind die Songstrukturen bzw. zu sehen, dass das Schema Hook-Strophe-Hook seinen Einzug in den Mainstream und Pop gefunden hat. Das gibt es dank LGoony sogar schon Ende 2014 in Deutschland. Als ich 2015 auf dem Splash! war und ASAP Rocky gesehen habe, hat mich gewundert, wieso er die Songs nie ganz, sondern immer nur Hook-Strophe-Hook spielt. Seit Lil Pump 2017 ist dann irgendwie klar, warum: So macht man Smashhits. Die Standart-Radiolänge von 03:00min – 03:30min hat damit einen ernsthaften Konkurrenten gefunden, vielleicht wird sie sogar komplett abgelöst. „Wieso soll man seinen Song mit langweiligen Strophen füllen, wenn doch die Hooks das sind, was im Ohr bleibt?“ – so in etwa ist, glaube ich, die Denke dahinter.
Ich halte die Aufmerksamkeitsspanne kurz
Ja, teilweise klingen die Lieder dadurch skizzenhaft und ich kann Falk Schachts Unmut im Ansatz nachvollziehen (ab 41:30). Aber in unserer Zeit geht es darum Hits zu machen und niemand ist heute davon beeindruckt, dass ein Rapper noch einen dritten Vers kickt oder eine besonders lange Reimkette gebastelt hat. Entweder ist es ein Hit oder nicht. Jedes Songelement ist auf dieses Ziel gerichtet. Zudem befinden wir uns auch in einer schnellebigeren Zeit als früher, die Aufmerksamkeitsspanne der Rezipienten ist kürzer und die 02:00min Lieder, die zu wenigstens 50% aus Hook bestehen, gehen super gut ins Ohr, sind extrem livetauglich und haben enormes Hitpotenzial. Zurück zu XXXTentacion: „?“ ist voll von Smashhits und Ohrwürmern.
Ein weiterer Punkt, der mich bewegt: Derzeit hat Rap die Vergangenheit für sich entdeckt. Das sieht man sowohl auf ästhetischer Ebene an unzähligen Musikvideos im VHS-Look (zuletzt bei den Migos), aber auch daran, wie viele Künstler sich in neue Genres wagen und Musik im alten Stil produzieren.
Cool, interessant, langweilig
Im deutschen Raum gibt es da beispielsweise „Diamant“ von der Love Hotel Band (Yung Hurn) oder „FML“ vom Singlecharts-Rekordhalter Bausa. Left Boy, der sich in den letzten Jahren mit flippigen Pop-Rap Nummern international einen Namen machen konnte, scheint gerade ein komplettes Rock-Album zu veröffentlichen. Und auch auf „?“ werden Genres bedient, deren Zeit eigentlich schon längst abgelaufen ist. Das ist auf der einen Seite irgendwie cool und interessant, Rapper so stilsicher in ungewohnten musikalischen Gewändern zu erleben.
Auf der anderen Seite aber auch total langweilig. Das beeindruckende und schöne an neuer Musik ist doch, dass sie auch wirklich etwas Neues ist. Wenn man als Künstler eine Liebe für etwas Altes entdeckt, besteht meiner Meinung nach die Kunst und Herausforderung darin, damit etwas Neues zu schaffen und nicht nur zu reproduzieren. Somit hat auch die musikalische Breite von „?“ einen faden Beigeschmack des Ausgelutschten, wenngleich sich XXXTentacion mit großer Virtuosität durch all die Genres bewegt.
Flache, kitischige Lyrics
Spätestens seit „17“, allerspätestens seit den laufenden Anklagen weiß man um die zerrüttete Psyche des jungen Exzentrikers. Wie sieht es denn mit den Texten auf „?“ aus? Für mich gibt es da keine Entwicklung. Die Lyrics sind genauso flach wie kitschig und hätten in gleicher Form auf dem letzten Album stehen können (standen sie auch). Weder im Herzen, noch im Geiste scheint es da Fortschritte zu geben.
Hier und da erklingt ein inspirierter Ansatz, wie beispielsweise die rhetorischen Fragen in „ALONE, PART 3“ („Who am I?“) oder auch in der Single „SAD!“ (What’s my worth?“). Das wären doch mal Gedanken, denen es sich lohnt tiefer nachzugehen und die auch dabei helfen könnten, zu genesen und den eigentlichen Problemen auf den Grund zu gehen. Aber das passiert nicht.
Kein authentischer Sinneswandel
Alles andere sind auf den Endreim fixierte Floskeln und dermaßen stumpfe Quengeleien, dass man sich fragt, wie um alles in der Welt er es hinbekommen hat, damit Songs zu kreieren, die man wirklich gerne hört. Das ganze „positive Energy“-Gelaber, das sich zum Beispiel auch in „Moonlight“ wiederfindet, ist ein unglaublich intelligenter Schachzug seiner Anwälte im Kampf gegen die Anklagen, wodurch er sogar für zwei Monate von seinem Hausarrest befreit auf Tour gehen kann, aber sicher kein authentischer Sinneswandel.
Insgesamt ist „?“ ein musikalisch spannendes Album mit richtig vielen schönen Klängen und Melodien, von denen einige den von XXXTentacion unverkennbaren Vibe transportieren und damit echte Meisterwerke sind. Er ist ganz sicher einer der besten Musiker seiner Welle. Zudem steht er in so vielen Hinsichten repräsentativ für seine Generation, für modernen Starkult, für die Werte, Träume und Probleme heutiger Jugend und vieles mehr. Das macht ihn und seine (Erfolgs-)Geschichte in diesem Sinne absolut verfolgenswert.