Disclaimer und Triggerwarnung vorab: dieser Text kann eventuell traumarisierend oder retraumatisierend sein – bitte pass auf dich auf und haushalte liebevoll mit deinen emotionalen Kapazitäten. Darüber hinaus habe ich diesen Text dreimal abändern dürfen, damit jeglicher Bezug zu real existierenden Personen und einer wirklich bekackten Situation absolut nicht erkennbar ist. Ich wünschte, ich wäre Danger Dan und hätte mehr Kunstfreiheit.
Falls es irgendjemand noch nicht mitbekommen hat, es ist mal wieder Fußball-Europameisterschaft und Deutschland sitzt mit mehr oder weniger Abstand zur Sitznachbarin vor dem Späti in Berlin Neukölln, in der Gartenlaube auf der Hollywoodschaukel oder dem heimischen Ecksofa und gröhlt, jubelt, springt und schreit laut auf! Zum Glück gibts ein mehr oder weniger großes Sport-Event, das uns neben einer weltweiten Pandemie, einer weiteren provozierten Eskalation im Nahost-Konflikt und all den Dingen, die uns sonst noch die Laune verderben könnten, noch etwas, das uns in regelmäßigen zeitlichen Abständen die Möglichkeit gibt, unseren Emotionen und unserer Empörung so richtig Ausdruck zu verleihen. Jetzt stellen wir uns alle mal vor, dass jeder einzelne von uns sich auch genauso darüber aufregen und seine empörte Meinung kundtun würde, dass irgendein Andi und seine zehn Freunde bei einem Turnier nicht mehr mitspielen dürfen (wahrscheinlich bekomme ich für diese Formulierung mehr Erregung wegen krassen Disrespects als wegen des eigentlichen Themas, also lasst bleiben, atmet durch und lest weiter!), wenn Folgendes passiert: eine Frau erhebt mal wieder Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs oder der Vergewaltigung gegen einen mehr oder weniger bekannten Mann! Falls wir die letzten Jahre zwischen den Fußballturnieren nicht in einer Art Schockstarre oder Winterschlaf verbracht haben, haben wir schon mal von der #metoo-Bewegung aus dem Jahr 2017 gehört, die die ein oder andere männliche Persönlichkeit Hollywoods in gerechtfertigte Bredouille oder zu Fall gebracht hat. Jedes Mal, wenns um gesellschaftliche Missstände, patriarchale oder rassistische Macht-Strukturen (erster Hint) geht, sind wir ganz besonders groß darin, die Probleme auf die anderen zu schieben – „ja, aber ey, in Amerika is das viel schlimmer und so!” – tausend Mal gehört, tausend Mal ist nichts passiert! Fast so, als würden wir bei jedem verlorenen Spiel der Nationalmannschaft dem Schiedsrichter die Schuld in die Schuhe schieben wollen (merkste watt?).
Und jetzt geht’s zum eigentlichen Thema, wo ich schon mal eure Aufmerksamkeit, danke Fußball, habe: Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe (wer sich hier am Wort stört – weiterlesen und lernen) und wie wir als Gesellschaft damit umgehen – zu welcher Gruppe du dich zugehörig fühlst, sei dir erstmal selbst überlassen – wir Leute, die Deutschrap hören und feiern, wir Leute, die mit gewissen Privilegien in Deutschland aufgewachsen sind, you name it. Gehen wir also von einem hypothetischen Szenario aus, das ich mir aus meiner sommersprossenbefleckten Nase gezogen habe – und trotzdem für viele Frauen die erlebte Realität abbildet: eine Frau wird ohne Einverständnis zu sexuellen Handlungen gezwungen. Nun ja, es gibt gewisse Tracks, die solche Szenen beschreiben und einige davon finden wir cool und pumpen wir gerne, wenn wir mit offenen Fenstern durch die Hood cruisen und entwickeln dadurch auch ein gewisses Vertrauensverhältnis und eine gewisse emotionale Bindung zu dem Künstler, weil der uns mit seinen credibilen und mitunter auch emotionaleren Lines jeden Besuch im Fitnessstudio versüßt. Dadurch vergessen – oder ignorieren – wir bewusst, was für ’ne mitunter sexistische und herabwürdigende Message der Künstler mit seinen Texten transportiert und wir damit konsumieren und weiterverbreiten. Unabhängig davon, dass ich es leid bin, wieder und wieder zu beobachten, wie wir als Gesellschaft vom Universum die gleiche Aufgabe gestellt bekommen und wie die flauschig-anspruchslosen Hamster im Hamsterrad unsere eingetrichterten Programme unbewusst abspulen („die Frau lügt bestimmt, muss man erst mal beweisen”, die „hat ja auch mal ihre Brüste gezeigt und sieht hübsch aus, die ist selbst Schuld”, „guck mal, was die anhat” – ich verstehe, dass wir die Schuld gerne bei anderen suchen, all diese Gründe sind aber irrelevant und zu kurz gedacht), weil wir’s nicht lernen, möchte ich an erster Stelle meine volle Solidarität mit jeder starken und mutigen Frau und jeder Person bekunden, die die Eier haben (ja ja „Füchse sind gar keine Rudeltiere und Frauen habe keine Eier”, nutzt mal Ecosia oder Firefox, es sind zum Zeitpunkt der Geburt etwa 400.000 Eier in weiblichen Eierstöcken am Start, danke Jan-Philipp für den Kommentar), sich mit Ankündigung medial in solch einen Shitstorm zu begeben und all die unzähligen Kommentare über sich ergehen zu lassen, die die heiß geliebten (so wie Chlamydien) Internet-Rambos mit ihren Fake-Profilen verschicken.
Glaubt ihr ernsthaft, dass wir Frauen uns zu so einer beschissenen Aktivität freiwillig entscheiden würden, wenn wir nicht das Gefühl hätten, dass es zwingend notwendig ist, weil sonst niemand drüber redet und wir andere nach uns schützen wollen, damit das in Zukunft auch nur einmal weniger passiert? Bevor ich noch einen Schritt tiefer reingehen möchte, ein paar grundlegende Infos (und hier Kudos an den ein oder anderen männlichen Vertreter, der sich in einer solchen Situation reflektiert präsentiert): so viele von uns kennen Frauen, die von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt (im Internet oder im echten Leben) oder Vergewaltigung als eigene Erfahrung berichten können, aber keiner von uns will eine*n Vergewaltiger*in kennen (nicht nur Frauen werden vergewaltigt, aber für Männer fällt es aus weiter unten genannten Gründen nochmal schwerer, darüber zu sprechen, ein weiterer desinfizierter High Five fürs Patriarchat). Etwa jede 7. Frau in Deutschland erfährt im Laufe ihres Lebens Formen von sexualisierter Gewalt, und nur etwa 10% der Vergewaltigungen werden überhaupt angezeigt, aus Angst vor sozialer Bloßstellung, Angst vor dem Täter und Scham– und nur 8% der überhaupt angezeigten Vergewaltigungen enden mit einer Verurteilung. Halt Stopp – WHAT? Um das nochmal zu verdeutlichen: nur jede zehnte Vergewaltigung wird zur Anzeige gebracht und überhaupt erfasst und (um die Rechnung zu vereinfachen) nur jede zehnte von diesen 10% resultiert in rechtlichen Konsequenzen, also 1 von 100 Personen, die eine andere Person missbraucht und ihr sexualisierte Gewalt angetan haben – ich sachs nochmal: eine von hundert! Find ich wenig und empörend. Fragt jetzt also nicht, warum eine Frau damit oft nicht (gleich) zur Polizei geht! Sobald eine Frau all ihren Mut zusammennimmt und (mehr oder minder öffentlich) darüber spricht, gibt es neben dem ganzen misogynen Bullshit und den Solidaritäts-Bekundungen aus den (leider meist weiblichen) Reihen aber immer auch die eine oder andere Person, die sich durch diesen Schritt traut, ihre eigene Geschichte zu erzählen und die nicht weiter mit sich rumzutragen – und ehrlich gesagt, ist das oft der eigentliche Beweggrund (falsch geraten, es ist nicht Fame-Geilheit oder das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit): sich etwas weniger allein zu fühlen und einer anderen Person, die man vielleicht nicht nicht mal kennt, das Gefühl zu geben, dass sie mit diesem potenziell traumatisierenden Erlebnis nicht alleine dasteht!
Obacht Partypeople, ich spoilere – die Basis für eine solche Situation ist Macht. Wir leben – leider – in einer Welt, in der Macht eine unheimlich große Rolle zu spielen scheint, weil wir sie mit Wohlstand und einem Geltungsbedürfnis in Verbindung bringen und uns schon ziemlich früh aufgeschwatzt wird, dass das erstrebenswert ist. Und mit Kontrolle – es scheint vielen von uns sehr wichtig zu sein und von Anfang an eingetrichtert zu werden, dass wir andere kontrollieren müssen, um was zu gelten. Es scheint darüber hinaus für einige unter uns, die sich mit der Thematik etwas näher befasst haben, keine Überraschung zu sein, dass jegliche Diskriminierung und jedes Ungleichgewicht, die wir in der Welt und unserer Gesellschaft erfahren, darauf beruht, dass eine Seite Macht ausübt und die andere unterdrückt wird: Rassismus beruht auf Macht und Ausbeutung, Sexismus beruht auf Macht und Unterdrückung und dem traurigen Bedürfnis, sich über eine andere Person zu stellen, weil man meint, man selbst wär – aus welchen irrationalen Gründen auch immer – ein klein bisschen wichtiger, schlauer, schöner, toller und hat deshalb Deutungshoheit und einfach mehr zu sagen. Das alles ist schon so lange Teil unserer Gesellschaft und unserer Erziehung, dass es mitunter mehrere Versuche braucht, das Ganze überhaupt an sich ranzulassen und nicht sofort mit einer emotionalen (Schutz-)Reaktion und einem pöbelnden Kommentar im Internet abzuschmettern, nur damit man seine eigenen Glaubenssätze und verinnerlichten Verhaltensmuster nicht hinterfragen muss.
Wie oft habt ihr in eurem Leben schon mal eurer kleinen oder großen Schwester, Mutter, Tochter, Freundin oder einer anderen euch nahestehenden (weiblich gelesenen) Person gesagt, dass sie auf sich aufpassen oder sich melden soll, wenn sie gut angekommen ist? Wie oft? Ich mach das jedes Mal und habe lange noch nicht mal hinterfragt, wieso ich das tue: wenn wir kurz unseren Stolz und unser Ego (braucht kein Mensch) zur Seite lassen und brutal ehrlich zu uns sind, wissen wir, dass es in unserer Welt ein klein bisschen gefährlicher für Frauen ist als für Männer (was euch nicht abspricht, dass ihr nicht auch ein wirklich wirklich schweres Leben habt, Jungs)! Wir erzählen unseren Töchtern, dass sie nachts nicht alleine draußen rumlaufen sollen, weil wir tief in uns drin und insgeheim von einer abstrakten und nicht greifbaren Gefahr wissen, die dort lauern könnte, die wir aber in den seltensten Fällen als das bezeichnen, was sie ist: Männer. Ich kann absolut nachvollziehen, dass keine*r von uns einen solchen Mann kennen und benennen möchte und schon gar nicht dieser Mann sein möchte, vor dem man nachts (und manchmal auch tagsüber) Angst hat. Auch wir Frauen nicht – weil wir sie lieben und ihnen vertrauen. Zu oft versuchen wir in fragwürdigen Situationen, in denen eine Grenze überschritten wurde, die Augen zu verschließen und die Sache mit einem „ja, aber der ist sonst echt ein netter Typ” abzutun, zu lächeln oder hören eben doch weiter seine Musik, obwohl wir die frauenverachtenden, sexistischen und rassistischen Punchlines hören und tief in uns drin wissen, dass das eigentlich nicht cool ist. Es gehört aber zu unserer Verantwortung als soziales Kollektiv, auch mal unser eigenes Verhalten zu hinterfragen, unser Narrativ zu reflektieren und zuzuhören, auch wenns unbequem ist und die eigene emotionale Reaktion runterzuschlucken (die ist übrigens da, um uns vor uns selbst und unseren tiefsitzenden Ängsten zu schützen). Im Idealfall lernen wir daraus und machen es beim nächsten Mal besser. Ja, das ist anstrengend und wirklich ätzend, ja das haben wir schon lange so gemacht und wir sind abgestumpft und daran gewöhnt, es würde uns allen aber auch extrem guttun, ein bisschen Schwäche zuzulassen, auf der anderen Seite wartet nämlich ’ne Menge Freiheit und eine sichere Welt auf uns – für uns selbst und die nächsten Generationen, die wir heranziehen und beeinflussen. Auch wenn es wehtut, werft die sexistischen und frauenverachtenden Tracks der Künstler aus eurer Playlist und setzt damit ein Zeichen – ich kann es kaum abwarten, was an krassen Zeilen und fetten Beats, die wir so hart feiern, auf uns warten, wenn wir uns nicht mehr nur mit nackten Körperteilen und unserem Fortpflanzungstrieb befassen!