„Die Urbane. Eine HipHop Partei“ hat im deutschen Parteienspektrum fraglos Alleinstellungswert. Denn sie ist eine HipHop Partei. Was das genau bedeutet und wie HipHop in die politische Arbeit der Kleinstpartei einfließt, darüber sprach Mareike Greife mit Raphael Hillebrand – einem Mitbegründer der Urbanen.
Beginnen wir chronologisch: Die Urbane ist am 1. Mai 2017 gegründet worden. Was hat euch dazu gebracht, eine Partei zu gründen, die HipHop im Namen trägt?
Vor drei Jahren saß ich mal wieder alleine vor dem Laptop und habe gedacht, „Wie kann ich mich dem Unrecht gegenüber verhalten? Wie kann ich das mit mir vereinbaren?“ Und mir ist aufgefallen, dass – im Gegensatz zu vielen Freunden und Bekannten, die ich so rund um die Welt habe – ich hier als Berliner, als Deutscher und als Künstler, Privilegien habe, die viele andere nicht haben: Mitmachen, eine Partei gründen können, sich selbst organisieren. Wenn die Leute in Hongkong auf die Straße gehen und für Sachen kämpfen, wie ich das tue, dann kommen sie in den Knast. Wir leben hier in der Hauptstadt Deutschlands, dem größten Land der Europäischen Union, was der größte Wirtschaftsraum der Welt ist: Es ist ganz entscheidend, was wir machen – und in unserem Namen wird zu viel Scheiße gebaut.
Also habe ich gesagt: Ich will nicht mehr, dass Merkel für mich redet. Es gibt keine Partei, von der ich mich ernsthaft vertreten fühle, also müssen wir uns selbst vertreten. Daher haben wir uns überlegt, was unsere Grundwerte sind, was uns prägt. Und das ist nicht das Christentum, die Sozialdemokratie oder der Liberalismus – sondern HipHop. Und HipHop als eine tiefpolitische Bewegung – von den Künstlern, aber auch den Anfängen. Marginalisierte Menschen am Rande der Gesellschaft, die sagen: Wir haben einen Wert, wir sind nicht einfach nur Müll in einem Vorort, sondern wir können Kunst machen, wir können die Welt revolutionieren, durch Malerei (Graffiti), Tanz (Breaken) und Musik (Rap). In den folgenden Jahrzehnten hat HipHop die Kulturwelt auf den Kopf gestellt. Dieses „Voice to the Voiceless“- also eine Stimme für die Leute, die keine haben – darauf ein politischen Programm aufzubauen – das ist das, was wir brauchen, was wir sind und was ich fühle.
„A voice to the voiceless“
Inwiefern seht ihr euren Alleinstellungswert als Urbane in Abgrenzung zur Grünen und zur Linkspartei? Ist euer HipHop-Background der einzige Unterschied zu den anderen linksliberalen Parteien?
Das Alleinstellungsmerkmal ist ganz klar, dass für andere linksliberale Parteien kulturelle Vielfalt ein Problem ist, was behoben bzw. bearbeitet werden muss: Es geht dann um Begriffe wie Integration und so. Als HipHopper wissen wir, dass kulturelle Vielfalt ein großes Potential ist. Das ist unser Schatz. Und als Berliner wissen wir: Die Mieten steigen am schnellsten in Kreuzberg – dem Bezirk, der am meisten kulturelle Vielfalt bietet. Wir wissen, dass HipHop nur entstanden ist, weil Leute in der Bronx zusammengelebt haben – von Jamaikanern, Afroamerikanern, Puertorikanern, Weißen und Schwarzen. In dieser explosiven Mischung steckt ein riesiges Potential, und zwar nicht nur für Kunst, sondern auch für gute Politik. Das ist unsere Selbstverständlichkeit von kultureller Vielfalt und die ist ganz anders als bei all den anderen Parteien.
Auch im Gegensatz zu Linken und Grünen?
Absolut! Wenn du dir die Linke anguckst, dann ist das ein weißer Raum, der von „Fluchtwellen“ spricht. Wenn die von Migration sprechen, dann sprechen sie davon, wie man es schaffen kann, dass die Schwarzen da bleiben wo sie sind. Wir sagen: „Freedom of movement is a human right.“
Wenn du in so einen Raum reinkommst und mitdiskutierst…Oh shit, das macht einen riesigen Unterschied. Ich will, dass Menschen of Colour sich in Deutschland wieder in die politischen Prozesse einbezogen fühlen.
In eurem Parteiprogramm habe ich allerdings schon in vielen Punkten Schnittmengen zu zum Beispiel der Linkspartei gesehen. Glaubt ihr nicht, dass ihr mehr erreichen könntet, wenn ihr euch einer der größeren linksliberalen Parteien anschließt? Dann würdet ihr ja die kulturelle Vielfalt, zum Beispiel in der Linkspartei, steigern.
Ich habe einige Freunde, die geschlossen in die Linke eingetreten sind. Die Linke wird keine People of Colour-Partei werden und Leute, die sich zum Beispiel in feministischen Diskursen oder in anderen Marginalisierungs- und Antidiskriminierungsdiskursen bewegen, merken schnell, dass du eine eigene Gruppe brauchst, wo Frauen untereinander sprechen können, um ihre Interessen vertreten zu können.
In der Linken wird das nie so sein. Sie sprechen eben von den sogenannten „Ausländern“.
Was glaubst du, woran das liegt?
Es ist eine weiße Mehrheitsgruppe, die ihre eigenen Interessen durchsetzt. Und das können nicht die gleichen sein, wie unsere. Wir leben in einem Land, wo, nach dem Geschlecht wahrscheinlich, die Frage, ob du Deutscher oder Ausländer bist, das stärkste Identifikationsmerkmal darstellt. Es gibt keine Partei, die für Menschen, die im Alltag als Ausländer bezeichnet werden, spricht. Wenn ich bei den Linken erfolgreich sein wollte, würde ich mich an sie anpassen müssen und nicht andersherum.
Wir kämpfen dafür, dass die Menschen in den Parlamenten endlich so aussehen wie die Menschen auf der Straße.
Allein euer Name „Die Urbane. Eine HipHop Partei“ lässt recht direkt auf die mutmaßliche Zielgruppe schließen. Großstädter und HipHop-Interessierte nehme ich an. Gehe ich recht in dieser Annahme?
Auf jeden Fall werden sich Leute, die mit HipHop im Herzen etwas zu tun haben, sich davon schneller angesprochen fühlen, aber es gibt auch ganz viele Leute, die mit HipHop gar nichts zu tun haben und sich trotzdem für unsere Werte interessieren.
Es geht bei uns nicht darum, Rapästhestik ins Parlament zu bringen, sondern um die ursprünglichen Werte von HipHop und viele davon sind humanistische Grundwerte. Wir haben am Anfang begonnen zu sagen, wir wären für alle. Mittlerweile sind wir viel spezifischer geworden, denn HipHop war immer „the Voice to the Voiceless“. Die anderen haben ja schon eine Stimme, also sind wir die Stimme für Leute, die zum Beispiel im Alltag als Ausländer bezeichnet werden, für PoCs und für alle weißen Verbündeten. Das so zu benennen ist für uns wichtig.
Peace, Love, Unity and Having Fun!
„Es geht bei uns nicht darum, Rapästhetik ins Parlament zu bringen“
Mein Gedanke war nur, dass viele Menschen, die zum Beispiel im ländlichen Raum leben, sich wahrscheinlich von der Urbanen weniger angesprochen fühlen. Wie siehst du das?
Ich habe erst lernen müssen, dass Partei von sich aus schon heißt, dass es nicht eine für alle geben kann. Es sind Teile eines Ganzen und wir müssen uns eben selbst vertreten, damit das Ganze funktionieren kann.
Wie sieht denn bei den Urbanen momentan die Partei- und Mitgliederstruktur aus?
Wir sind bundesweit knapp 300 Mitglieder. Unsere Landesverbände haben wir vor Kurzem auf Eis gelegt und bauen gerade neue auf. Zur letzten Bundestagswahl hatten wir drei Landesverbände, die nicht so gut funktioniert haben, weil wir sie innerhalb von zwei Monaten für die Bundestagswahl an den Start gebracht haben. Jetzt wachsen wir ein bisschen gesünder. In Bayern formiert sich gerade eine Gruppe um Waseem Radwan, der aktuell in München am Wahlkampf teilnimmt. Er ist Urbane Mitglied aber tritt diesmal auf der Liste der MUT Partei an. Dann gibt es in Norddeutschland eine Gruppe und in Berlin. Unsere Mitglieder sind bundesweit verteilt, bloß organisieren und treffen sich viele noch nicht.
Wir haben unter anderem auch Mitglieder in ihren Fünfzigern. Aber auch einige unter 18 Jahren, weil wir eine der wenigen Parteien sind, bei denen man auch vor der Volljährigkeit mitmachen kann. Wir sind auch die einzige Partei, in der du ohne eine deutsche Staatsbürgerschaft Mitglied werden kannst, wenn du in Deutschland lebst. Du kannst dann in den Prozessen mitwirken und sogar im Vorstand der Urbanen sitzen.
Ein Mitglied kam aus dem Iran als Geflüchteter hierher und hatte auch einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Eine Zeit lang war er auch von der Abschiebung bedroht und er kann trotzdem bei uns im Vorstand mitmachen. Er kann Demonstrationen mitorganisieren, sich einbringen und seine Meinung wählbar machen. Natürlich kann er nicht Bundespräsident werden, aber er kann bei uns Vorstandsmitglied sein.
Vor zwei Monaten ist zum Beispiel auch Idil Baydar (Bekannt als Jilet Ayse; Amn. d. Red.) eingestiegen, kurz bevor sie die Möllner-Rede im Exil gehalten hat. Sie hat Morddrohungen bekommen und wurde von der deutschen Polizei nicht ernst genommen. Man muss sich selbst organisieren, um sich zu schützen.
Ihr beschreibt euch als Partei, die im bundesdeutschen Spektrum „am weitesten von der AfD weg“ ist. Damit ist die politische Positionierung recht klar. Aber was sind politisch die Hauptthemen und Prinzipien, für die ihr euch einsetzt?
Also wenn ich Kanzler wäre (lacht), würde ich als erstes das bedingungslose Grundeinkommen einführen für alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben.
Zweitens: Stopp aller Auslandseinsätze von deutschen Soldaten mit Waffen. Mein Großvater hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und sagte zu mir: „Krieg bedeutet, dass alle verlieren“. Deutschland hat lange keine bewaffneten Soldaten ins Ausland geschickt und das hat lange auch gut funktioniert, dahin müssen wir zurückkommen. Imperialismus ist scheiße.
Drittens: Dekolonialisierung – Eine Neubewertung und Aufarbeitung der ganzen internationalen Abkommen. Es geht um die Art und Weise, wie Europa den globalen Süden bzw. die spät industrialisierten Länder noch immer unterentwickelt. Das geht nicht mehr und wir wollen das nicht mehr mittragen. Es ist so offensichtlich, dass das dringend geändert werden muss. Wir können nicht weiterhin von Entwicklungshilfe reden, wenn das alles Unterdrückungsmechanismen sind.
Die meisten unserer Leser*innen werden sich wahrscheinlich auch fragen, inwiefern HipHop in eure aktive politischen Parteiarbeit einfließt.
Unsere Auftaktveranstaltung war zum Beispiel eine Jam mit Konzert, Cypher, Graffiti und Breaken. Das fließt insofern in unsere Praktik mit ein. Außerdem kennen uns viele schon aus der HipHop-Szene, was uns einen Vertrauensvorschuss bzw. ein Miteinander und den Respekt gibt. Wir teilen eine gemeinsame Kultur und viele von uns wurden durch Musik politisiert. Die gleichen Songs gehört zu haben, zu wissen wer Public Enemy und die Black Panthers sind, bringt uns auf einen Vibe.
In unserer Praktik gibt es jetzt keine Pflichtsachen wie, dass jemand rappen oder scratchen muss, aber man sieht unserer Ästhetik den HipHop natürlich auch an. Ich würde die Politik gern noch mehr mit Sachen verbinden, die HipHop-lastig sind und Spaß machen: Zum Beispiel, dass bei Demos getanzt, geschrien und die Meinung gesagt wird und sich das nicht wie Arbeit anfühlt, sondern wie eine Jam oder eine Cypher.
„HipHop ist eine Gegenkultur“
Leider spielen im Deutschrap-Mainstream auch Chauvinismus, Misogynie, Gewalt und neoliberale Werte eine große Rolle. Wie positioniert ihr euch als Urbane dazu?
Mir geht es um die Anfänge und um die Grundlage – um das, was HipHop am Anfang war. Und das waren Menschen am Rande der Gesellschaft, die sich selbst ermächtigen. Selbst wenn wir uns den aktuellen Mainstream angucken, sind die Hintergründe von Rappern wie Abdi oder Capital Bra auch ähnlich. HipHop ist eine Gegenkultur.
Ich finde, dass Leute, die sich männlich, stark und groß darstellen und auf dicke Hose machen, das immer aus einer Angst heraus machen. Ich wollte früher auch stark und krass wirken, aber im Nachhinein merkt man dann, dass man eigentlich Schiss hatte – so eine Concrete Jungle Mentalität. Daraus ist HipHop auch erwachsen, aber trotzdem sprechen auch Leute wie Capital Bra für die unterdrückte Klasse.
Sie sind zwar absolut kommerzialisiert, aber sie wissen, was es heißt ausgeschlossen zu werden, auf eine Klassenfahrt nicht mitkommen zu können oder auf der Straße komisch angeguckt zu werden von Menschen, die nicht wollen, dass du hier lebst.
„Auch Leute wie Capital Bra sprechen für die unterdrückte Klasse“
Also wäre es auch ein Ziel der Urbanen, die jugendlichen Hörer*innen vom jetzigen Deutschrap-Mainstream zu politisieren?
Absolut. Sowohl sie mit zu politisieren, aber auch, ihnen einfach ein Ventil für diesen Dampf zu geben. Die wollen gegen etwas sein, auch wenn sie es nicht formulieren, spüren sie, dass da eine Unterdrückung und eine Ungerechtigkeit ist, die sich dann manchmal eben in Verschwörungsideologien oder Sonstigem äußert. Das kommt aber auch daher, dass die Gesellschaft ihnen nicht die Antworten gibt oder Gutes vorlebt.
Wir merken es ja: Da ist eine riesige Lüge. Wir können unsere Wirtschaft nicht immer weiterwachsen lassen, in Afghanistan unsere Freiheit mit Waffengewalt verteidigen und so weiter. All das sind Dinge, die junge Leute dazu bringen zu sagen: „Scheiß auf alles.“
Versucht ihr vielleicht sogar, aktiv politisch gegen die teilweise menschenverachtenden und relativ neoliberalen Werte, die in einem nicht unbeträchtlichen Teil der Szene vorherrschen, anzukämpfen?
Wir sehen uns nicht als die Leute, die die HipHop-Szene retten müssen. Ich glaube, da ist ein Sensibilisierungsprozess nötig. Natürlich finde ich es oft flach, was Rapper herausbringen, um Geld zu verdienen, aber ich werde mich nie hinstellen und einen Rapper dafür kritisieren, was er rappt. Darum geht es nicht und dafür sind wir als Partei nicht da.
Die Urbane muss das, was die Gesellschaft von HipHop lernen kann, nach außen tragen. Was die Leute in einem Battle machen, sollen sie im Battle machen.
Alles auf der Welt ist immer politisch und vor allem Rap. Selbst wenn du in der Öffentlichkeit stehst und über Kochrezepte redest, ist das politisch, weil du dann gerade nicht darüber redest, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken.
„Die Zeit der Neutralität ist vorbei“
Letzte Worte?
Radikal. Dekolonial. Machtkritisch. Die drei Begriffe sind mir wichtig, da sie für unsere nächste Bundestagswahl Schlagworte sein werden. Als wir die Urbane gegründet haben, habe ich schon versucht, viele Leute aus der Rapszene mit ins Boot zu holen. Einige, wie DJ MK 1 von den Atzen, Storm oder Marc Hype sind bei uns dabei, aber manche haben sich auch gedrückt.
Ich lade hiermit die deutsche HipHop-Szene und vor allem die erfolgreichen Künstler ein, politische Position zu der aktuellen Situation der Welt und zu uns als Urbanen zu beziehen. Ihr müsst uns nicht alle toll finden, aber ihr müsst zumindest sagen, ob ihr uns fresh oder wack findet. Wenn ihr uns scheiße findet, lebe ich damit, aber die Zeit der Neutralität ist vorbei. Wer heute neutral ist, ist Mittäter.
Angesichts von Trump, der Festung Europa und der Klimakatastrophe müssen wir uns positionieren – erst Recht, wenn wir das Privileg besitzen, in der Öffentlichkeit zu stehen und Leute zu haben, die uns zuhören. Die acht reichsten Männer der Welt besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Das können wir nicht tolerieren.
The revolution will not be televised. Peace.
Vielen Dank für das Gespräch!
Raphael Hillebrands Rede bei der Oury Jalloh Gedenkdemonstation 2020 in Dessau: