In unserer Interviewreihe “Rap und Literatur” geht es um das Verhältnis von HipHop-
Künstlern zu Literatur und Sprache. In der zehnten Folge dieser Reihe kommt erstmals mit
Tarik Chakor ein HipHop-Forscher zu Wort. Chakor unterrichtet an der Université Savoie-Mont-Blanc und ist ein gefragter Experte in Sachen Rap in Frankreich. Auch wenn sich seine Forschung auf die Business-Komponente fokussiert, kommen bei ihm kulturelle und politische Aspekte der HipHop Kultur nicht zu kurz. Ein Gespräch, in dem es um berühmte Rapper in Frankreich wie PNL, JUL, IAM und schlechtes Rap-Marketing geht.
Wenn du Deutschrap hörst, was kommt dir dann in den Sinn?
Ehrlich gesagt gar nichts. Ich würde dir gerne mindestens einen Namen nennen können, um wenigstens so zu tun, als ob ich etwas kennen würde, aber mir fällt absolut kein Name ein.
Ok, ich nenne mal paar Namen: Bushido, Miami Yacine oder Samy Deluxe. Es gibt ja auch deutsche Rapper, die Songs mit Rappern aus Frankreich gemacht haben.
Haftbefehl hat zum Beispiel 2014 den Song “Haram Para” mit Kaaris gemacht. Sagt dir das etwas?
Das sagt mir vage etwas, ja. Aber wenn du von deutschen Rappern sprichst, dann kommt
mir vor allem der berühmte Rapper aus Marseille SCH, der deutsche Wurzeln hat, in den
Sinn. (Lacht)
Stimmt es, dass ein Großteil der besten französischen Fußballer ausschließlich Rap hört?
Die Besten, vielleicht, aber vor allem die Jüngsten! Das ist mehr eine Generationenfrage:
Eine Mehrheit unter den Jugendlichen – also nicht nur Fußballspieler – hört Rap und kleidet
sich hiphop oder nenn’ es, wie du willst. Was ich sagen will, ist, dass das ein grundsätzlicher Trend in der Gesellschaft ist. Und klar, jetzt, durch die sozialen Netzwerke kriegen wir Einblicke in den Alltag der Sportler. Wir sehen, wie sie Rap in der Umkleidekabine oder in ihrem Privatleben hören. Man sollte aber nicht vergessen, dass sie auch andere Sachen hören: verschiedene afrikanische Genres, Raï (Volksmusik aus Algerien) zum Beispiel, oder auch französische Chansons.
Auch wenn ich in meinen Essay (den Adem hier veröffentlicht hat; Amn. d. Red) zu PNL nicht auf Marketing eingegangen bin, würde ich behaupten, dass die PNL-Brüder auf Marketing-Ebene sehr viele Fehler machen. Sie rappen über Themen, die eigentlich nicht so sexy für den Mainstream sind. Es geht beispielsweise viel um den Islam als Lebensphilosophie. Ihre Songs sind auch inhaltlich gesehen überladen; folgen selten stringent einem Thema. Sie kommunizieren nicht mit den Medien. Und zu guter Letzt sind ihre Songs auch viel zu lang, um Playlisten-tauglich zu sein. Das geht doch alles gegen kapitalistische Prinzipien, oder?
Im Gegenteil, ich finde, dass PNL Künstler sind, die im Bezug auf Marketing,
Verkaufsstrategie und Fan-Kommunikation ganz genau wissen, was sie tun. Mit Hugo
Gaillard zusammen habe ich einige Artikel über dieses Thema verfasst. Wir haben uns die
Rolle der verweigerten Kommunikation, ihrer Unverfügbarkeit (mal sind sie für paar Wochen sehr präsent, dann hört man monatelang nichts mehr von ihnen) und die Positionierung ihrer Musik als, man könnte sagen, “Luxusgut” näher angesehen. Und diese drei Komponenten sind grundlegend für ihren Erfolg, denn dadurch schaffen sie Seltenheit und das wollen die Leute. Ob die Musik einem gefällt oder nicht, ist eine andere Frage. Die Zahlen aber sprechen für sich: Die Jungs brechen regelmäßig Rekorde und historische Bestmarken der französischen Musikgeschichte. Das ist Fakt.
Stellt JUL in dieser Hinsicht im krassen Gegensatz zu PNL?
Im Bezug auf JUL gilt eigentlich das Gleiche wie für PNL: Er ist einer der erfolgreichsten
Künstler im Land und Meister in Sachen Marketing. Ob die Musik uns dann gefällt oder
nicht, ist eine andere Frage. Was interessant ist: JUL verfolgt eine Strategie, die im
Gegensatz zu der von PNL steht. Er ist hyper-präsent, bringt durchschnittlich alle vier
Monate ein Album heraus (!) – und davon ist auch noch jedes Zweite kostenlos! Er ist
unverkennbar in seiner Art und in seinem Kleidungsstil… Um das Ganze mal zu
verbildlichen: 2019 fuhr JUL ihm Rahmen der Veröffentlichung seines Albums “Rien 100
Rien” mit einem Twingo in das Fußballstadion von Olympique Marseille, um dort ein
Konzert zu geben. Im gleichen Jahr organisierte PNL das erste Konzert zu ihrem Album
“Deux frères” ganz spontan in der Pariser Luxus-Shoppingmeile Champs-Élysées. Was
aber PNL und JUL gemein haben, ist, dass sie ihr Publikum verstanden und eine enge
Beziehung zu ihm aufgebaut haben. Dieses geschaffene Zugehörigkeitsgefühl ist ein
Hauptgrund für die starke Loyalität, die sich dann in Streams oder Konzertbesuchen
widerspiegelt. Auch darüber habe ich einen Text mit Hugo Gaillard auf Französisch
geschrieben, den ihr hier lesen könnt.
Wie hast du es geschafft, dass dich der Rapper Sofiane in seine Rapshow “Rentre
dans le cercle” eingeladen hat? (Diese Show ist eine Art New-School-Pendant zu Formaten wie Rap am Mittwoch; Amn. d. Verf.)
Neben mir waren auch Hugo Gaillard und Leo Denis eingeladen, die sich ebenfalls für
HipHop Management interessieren. Hugo hatte einen Artikel zu Sofianes Leadership-Skills
geschrieben. Nachdem der Artikel erschien, hat mein Kollege Hugo über Twitter Sofiane
dreisterweise dazu aufgefordert, ihn in “Rentre dans le cercle” einzuladen, um über seine
Forschung zu sprechen. Sofiane hat auf den Tweet mit “Pourquoi pas?” geantwortet, also
“Warum nicht?” So hatte sich das damals ergeben. Das war wirklich eine beeindruckende
Erfahrung, vor allem für uns als Forscher: sehen, wie sich Sofiane in seiner Sendung
positioniert, seine Leadership-Skills, seine Fähigkeit, Leute um sich zu sammeln und wie er in dem ganzen Geschehen unersetzlich ist. Man könnte seine Strategie wie folgt
zusammenfassen: ein Maximum an Menschen zusammenzubringen, unabhängig davon
woher oder aus welcher Schicht sie kommen. Er hat auch Rap aus seiner “Isolation” geholt,
mit Kino, Theater und Fernsehen verbunden. Und wie man sehen kann: diese Formel geht
auf.
Man sagt ja, dass Rap der Spiegel der Gesellschaft sei. Wie stehst du zu diesem
Statement?
Rap wird oft als Spiegel der Gesellschaft gesehen, obwohl dies nicht immer der Fall war.
Vor allem in den Anfängen war Rap eher festlich, eine Art Zufluchtsort. Seit den 90er Jahren haben sich die Forderungen innerhalb der HipHop-Kultur verschoben. Der Protest,
insbesondere in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, wurde vermehrt zur
Sprache gebracht. Die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen wurde auch
thematisiert. Wenn Rap ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann weil Rapper über das rappen,
was sie erleben oder was sie erleben möchten, über ihre Wünsche, ihre Sorgen. So geben
sie den Zuhörern die Möglichkeit, sich selbst mit Rappern zu identifizieren und ihr eigenes
Leben anhand eines Rap-Songs zu reflektieren. Es gibt auch viele Texte, die sich mit
aktuellen politischen, sozialen oder gesellschaftlichen Themen befassen oder sich sogar
über diese lustig machen. Man kann schon sagen, dass Rap Spiegel der Gesellschaft ist,
aber manchmal ist es ein verzerrter Spiegel.
Was sagt die Art und Weise, wie über Rap berichtet wird, über eine Gesellschaft aus?
Es gibt eine Entwicklung in der Art und Weise, wie Medien Rap in Frankreich behandeln.
Hugo Gaillard und ich haben drei Stufen ausfindig machen können. Erste Stufe: Vor 1996
wurde Rap von den Medien ignoriert oder verachtet. Zweite Stufe: Zwischen 1996 und 2010, hat sich Rap insbesondere durch Radio Skyrock und durch die Demokratisierung des
Internets selbst Gehör verschafft. Dritte Stufe: Seit 2010 ist Rap immer weniger von
traditionellen Medien abhängig, da sich vermehrt Rap-Medien etablierten. Durch die
Explosion sozialer Netzwerke nahmen die Snapchat- oder Instagram-Accounts der Rapper
zunehmend selbst die Rolle von Medien ein. So gibt es heute zum einen die Fachmedien,
die Rap “ernst” nehmen, und zum anderen die großen traditionellen Medien, die sich nur für Rap interessieren, wenn sich zwei Rapper an einem Flughafen schlagen – siehe Booba
gegen Kaaris – oder wenn es um Rap geht, der von der Gesellschaft akzeptiert ist. In
Frankreich wären das Rapper wie Soprano oder Bigflo & Oli.
In Deutschland wurde 2019 viel über “gekaufte Klicks” geredet. Gibt es gekaufte
Klicks?
Natürlich! Und es wird sie auch noch lange geben! Vor den “gekauften Streams” gab es die
“falschen Verkäufe”, das heißt CDs, die von Plattenfirmen gekauft wurden, um die
Verkaufszahlen künstlich zu erhöhen. Heute gibt es “gekaufte Klicks” oder “gekaufte
Streams”. Dazu hat der Rapper Orelsan in seinem Lied “Rêves bizarres” mit Damso sich folgendermaßen geäußert: “Die, die dich streamen, sind Roboter” (“ceux qui te streament
sont des robots”). Am Ende des Tages geht es nur um Zahlen: Rapper sehen sich dazu
gezwungen, sich mit Zahlen – vor allem Klick-Zahlen und Streams – zu messen. Daher ist
es logisch, dass man in der Szene auf die Idee kommt, sie zu “fälschen”. Außerdem denke
ich, dass viel mehr Rapper Klicks “kaufen” als wir denken.
Wie würdest du schlechtes Rap-Marketing beschreiben?
Im Großen und Ganzen entspricht eine gute Marketingstrategie den Erwartungen der
Verbraucher und löst dann die Lust, das Produkt kaufen zu wollen, aus. Schlechtes
Marketing wäre also eine, die unangemessene Entscheidungen trifft, weil sie ihren Kunden
schlecht oder kaum versteht. Im Rap ist es noch komplexer: Es ist Kunst und da ist nicht
alles objektiv und leicht vorhersehbar. Wenn man seinen Musikstil, sein Image usw. komplett ändert, kann es dazu führen, dass die Hörerschaft den Rapper nicht mehr versteht. Aber manchmal behält ein Rapper jahrelang den gleichen Stil bei und man wird ihn beschuldigen, dass er immer das Gleiche macht! Schlechtes Rap-Marketing ist für mich also eine Kombination aus mangelnder Nähe zum Publikum und mangelnder Innovation. Ich sage nicht, dass es leicht ist, gutes Rap-Marketing zu machen.
Was sind deine zukünftigen Forschungsprojekte, die sich mit Rap befassen?
Da wird noch einiges kommen! Leadership im Rap oder die verschiedenen Formen des
Unternehmertums in der Rap-Welt (nicht nur Rapper) interessieren mich. Die Frage, wie
Rap die Geschäftswelt in Bezug auf Kommunikation, Marketing und Strategie wirklich
beeinflussen kann. Den Platz von Frauen im Rap will ich ebenfalls untersuchen. Allgemein
das Rap-Geschäftsmodell würde mich auch im Hinblick auf die Entwicklung, die
Besonderheiten oder die Auswirkungen des Wegfalls der CD sowie allgemeine
Veränderungen in der Musikbranche interessieren. Jeden Tag kommen neue Ideen dazu.(Lacht)
Was ist dein absoluter Lieblingssong?
Als gebürtiger Marseiller muss ich eigentlich “Demain c’est loin” von IAM sagen – das war
wirklich mein erstes einprägsames Hörerlebnis. Als ich das hörte, sagte ich zu mir: “Wow!
Das ist genau mein Musikstil. Das ist etwas für mich. Ah und das fällt mir auch noch ein: Das ganze Album von Rat Luciano, das „Mode de vie – Béton Style“ (2000) heißt: Den Namen des Albums auszusprechen, löst in mir schon Gänsehaut aus. (Hahahaha)
Das Interview wurde auf Französisch geführt und anschließend von Adem Ferizaj ins
Deutsche übersetzt. Adem Ferizaj ist Essayist, schreibt über kulturelle sowie politische Themen und lebt in München. Auf rap.de führt er das Interview-Format “Rap und Literatur”.
Alle “Rap und Literatur”-Ausgaben findest du hier.