Review: Haftbefehl – D.W.A. (Das weiße Album)

Review: Haftbefehl – D.W.A.

„20 Jahre Drogen warum ich mich schizophren verhalte“ heißt es auf „1999 Pt. 5“. „Das weiße Album“ ist ein Mosaikstein in der Geschichte von Haftbefehl, die seit mittlerweile einer Dekade erzählt wird. Ein Puzzleteil, das sich anfühlt wie der dramatische Absturz kurz vorm großen Finale eines packenden Films.

10 Jahre Haftbefehl

Der Film handelt vom jungen, wilden Haftbefehl, der nicht nur die Authentizität von Gangsterrap, sondern auch die Sprache der Rapszene auf seine ganz eigene Art prägt. Der sich von Album zu Album weiterentwickelt, um schlussendlich erst seinen Namen in Stein zu meißeln und im wohl größten Rapklassiker der letzten Dekade zu gipfeln. Dann: Stille. Warten. Mutmaßen.

Sechs Jahre sind seit „Russisch Roulette“ vergangen. Sechs Jahre, in denen es zwar kleinere Releases und Gastauftritte gab, die Geschichte des Offenbacher Hünen mit der Bazooka im HdF und der unumstößlichen Sonderstellung in der Rapszene aber nicht weiter gesponnen wurde. Als Geschichte hat Haftbefehl selbst seine Diskografie wohl nie konzipiert, doch genau das macht ihn und besonders „D.W.A.“ so spannend – die organische Entwicklung eines Rappers, der aufgrund seiner ständigen Metamorphose zwar nie so ganz greifbar, aber doch immer derselbe charismatische und markante Baba Haft war, der bereits im Intro „Bolon“ wieder zeigt, warum er dieses besondere Ansehen genießt.

„Das weiße Album“ eröffnet mit einem verwaschenen, kraftlosen Klavier am Horizont. Kein edler Konzertflügel, keine epochale Harmonie. Nur ein paar Akkorde, die klingen, als wären sie bei schlechtem Wetter irgendwo in einer nebelverhangenen Landschaft eingespielt worden. Haftbefehl rappt melancholisch, beinahe matt. Er rappt über Kokain. Als plötzlich die Snares zu rattern beginnen, erwacht der zwei-Meter-Mann. Plötzlich entfesselt er seine Stimmgewalt und tänzelt zwischen diversen Flows umher, bleibt aber bei der Thematik, die wohl über den an einen Beatles-Klassiker angelehnten Albumtitel entschieden hat und sich noch als die grausame Fratze entpuppen soll, die das Cover ziert.

Kokain als Leitmotiv

Das weiße Pulver zieht sich wie ein roter Faden durch Haftbefehls Karriere: Als Handelsgut, das junge Hustler reich macht. Als dunkles Geheimnis, das künftig lieber unterm Bett statt auf dem Schrank gebunkert wird, um den familiären Haussegen zu bewahren. Vor allem aber als Rauschmittel und Suchtstoff, dem Haftbefehl selbst mehr und mehr verfällt – ein Problem, das auf dem weißen Album seinen vorläufigen Höhepunkt findet.

Mit „Bolon“ und den darauf folgenden Songs liefert das „D.W.A.“ zu Beginn noch gewohnte Hausmannskost: Koks wird verkauft und konsumiert. Die experimentell gemächliche Gangart des Intros weicht aber schnell dem neuen Bazzazian-Sound, der sich durch „D.W.A.“ zieht und dem Album so eine eigene musikalische Identität verleiht: Haftis melodramatischer Singsang und die letzten Töne des verwaschenen Klaviers werden umgehend von der dominant drückenden Bassline des darauffolgenden „Morgenstern“ verdrängt. Inhaltlich gibt es hier zwar nicht viel fürs große Ganze zu holen, ein aggressiver, zorniger Haftbefehl bringt aber die rohe Energie von „D.W.A.“ direkt zu Beginn den auf (Höhe-)punkt. Der Bass, der unaufhaltsam alles niederwalzt, der heimliche Star des Albums – wo Bazzazian einst mit ausgefeilten Toplines veritable Club-Hits schuf, prägen nun mächtige Bässe das Bild und fangen Haftis unbändige Emotion in musikalischer Form ein.

Auf die unbändige Energie, die Haftbefehl in diesem Moment versprüht, folgt mit „KMDF“ direkt die thematische Einordnung. Das Narrativ ergreift wieder die Zügel. Der Titel steht für „Koka macht dich feucht“: Die unangenehm bildliche Momentaufnahme eines frenetisch feiernden Aykut Anhan, der „100 Gramm Schnuff in die Luft“ und schreit „Schlampe, atme ein“. „Ich schick die Nutten druff“ beschreibt er selbst diesen Vorgang und die dicke, muffige Clubluft wird geradezu greifbar. Es wäre zwar naiv gewesen, zu erwarten, dass Haftbefehl plötzlich von jeglichem Sexismus geläutert auftritt, dennoch sind solche Zeilen entmenschlichend – zumal Haftbefehl eindringlich versichert, dass jedes Wort auf diesem Album der Wahrheit entsprechen soll. So ordnet er derartige Situationsbeschreibungen zwar als Erlebnisbericht ein, nicht als Fantasie – das macht es aber nicht weniger frauenverachtend.

99 Problems

Doch als mehr oder weniger bekennend Drogenabhängiger hat Haftbefehl noch ganz andere Probleme als nur eine politisch unkorrekte Ausdrucksweise: Nicht nur die visionäre Produktion von Bazzazian lässt durchscheinen, dass es sich bei „D.W.A.“ um ein inoffizielles „Russisch Roulette 2“ handelt. Die emotionale und stets zutiefst persönliche „1999“-Reihe wird fortgesetzt und findet im Outro des Albums ihren rührenden Abschluss, der einen weiteren Kreis in Haftbefehls Geschichte schließt: Das Jahr, in dem sein Vater sich das Leben nahm, endet. Das Jahr 2000 bricht an, Haftbefehl steht unter Drogen, blickt in den Nachthimmel und denkt über seinen inneren Krieg nach – über den Kampf gegen die eigenen Dämonen, den er seit seinem ersten Album und noch länger kämpft. Engel im Herz, Teufel im Kopf.

20 Jahre später ist Haftbfehl kein junger Dealer mehr. Die Momente der Andacht kommen ihm nun „im dunklen Hotelzimmer“ liegend. Hafti scheint mit den Fehlern seiner Vergangenheit aufräumen zu wollen, getrieben von „Depression & Schmerz“. Auch wenn er die Drogensucht nicht als Ursache dessen bennent und keine Gründe dafür sucht, dass sein „totes Herz“ zugrunde ging, zeichnet der Folgetrack „Papa war ein Rolling Stone“ das Bild recht deutlich: Traurig schön gedenkt Haftbefehl seinem Vater, der bisher nie eine annähernd so große Rolle gespielt hatte wie es auf dem selbstreflektiert-abgründigen „D.W.A.“ der Fall ist. Der Tod dieser bemerkenswerten Person, die Haft sehr ähnlich gewesen sein soll, steht am Ende des Albums und am Anfang all dessen, was Haftbefehl heute ist.

Der Blick hinter die Fassade

Diese Review mag mit viel Interpretation gefüllt sein. Doch genau das ist es, was Haftbefehl und „Das weiße Album“ vom Genredurchschnitt abhebt: So stumpf viele Songs auf den ersten Blick wirken mögen, so asozial und ungehobelt Haftis auftreten auch sein mag – hinter der harten Schale ergeben Charakter und Kunst einen tieferen Sinn, der organisch und unverkrampft entstanden ist. Kein Kalkül. Keine Story, die wie ein Masterplan schon für „Azzlack Stereotyp“ ausgebrütet wurde. Nur ein Ausnahmekünstler, dessen Leben zufällig ein wahnsinnig packendes Narrativ in Musikform ergibt.

Schade ist zwar, dass „D.W.A.“ nicht in jeder Hinsicht mit „Russisch Roulette“ mithalten kann, doch die unterschwellig vorgenommene Erzählung steht hier klar im Vordergrund. An die Highlight-Dichte dieses Klassikers anzuknüpfen, ist aber ohnehin ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Schade ist nur, dass die Feature-Politik nicht ähnlich wie beim Vorgänger gehandhabt wurde – zwar läuft jeder Gast zu Hochtouren auf, doch einige Parts wirken eher deplatziert und weichen teilweise arg vom Rahmen des jeweiligen Songs ab.

Schönheitsfehler wie dieser oder die Tatsache, dass der auf dem splash! 2017 entstandene Song mit Gucci Mane eher wie ein Fremdkörper anmutet, der vor drei Jahren sicherlich mehr Impact hätte genießen können, ändern aber nichts an der Tatsache, dass der Einblick, den „Das weiße Album“ in Haftbefehls Seelenleben gewährt, ein extrem spannendes Fragment in der Geschichte einer Reise ist, die sich anfühlt, als würde sie kurz vor einem epochalen Ende stehen. Doch wohin diese grandios erzählte Reise sich wirklich entwickelt, weiß wohl nicht einmal Baba Haft selbst – denn für Berechenbarkeit war er wahrlich nie bekannt.

https://rap.de/soundandvideo/181501-haftbefehl-morgenstern-prod-bazzazian/