Massiv – M10 (Review)

Nimmt man den Mut zur Erkundung persönlich bisher unbetretener Areale als Gradmesser für Weiterentwicklung, wäre es nicht strittig, Massiv künstlerische Progression zu bescheinigen. Ob Mut alleine die Qualität eines Fortschritts umreißen mag, darf natürlich bezweifelt werden. Nicht jeder neue Sneaker passt an jeden Fuß. Nicht jeder neue Sneaker passt überhaupt an einen Fuß. Ungeachtet dessen hat sich Mr. Al Massiva nie wirklich daran gestört, seine Hantelbank aus einer neuen Perspektive zu betrachten, immer mit dem Streben nach persönlichem Fortschritt, zeitgemäßer Vermarktungsgrundlage und dem Wunsch nach Authentizität. Die Ankündiung, Gunshots und das berühmte gerollte R nun auf Trapbeats zu pumpen, sorgte für Skepsis, aber auch Vorfreude bei Hatern wie Supportern. Ob wir nun eine Symbiose oder Parasitismus aufgetischt bekommen, offenbart uns „#M10“ nun. Möge der Löwe brüllen.

„Herzlich Willkommen. Die Beute wird geliefert, gejagt und getötet. In der Reihenfolge.“ („Intro“)

Folgen wir dem Leitbild des Intros „Totgesagte leben länger“, stolpern wir über einen roten Faden, der zumindest eine Hälfte von „#M10“ auf den Punkt komprimiert. Vom Gejagten zum Jäger. Mit dem Akustikschnipsel aus dem 2010 veröffentlichten Nimród Antal-Film „Predators“, in dem uns Laurence Fishburn als Noland erklärt, wie viele Generationen an Jägern er schon überlebt hat, zeigt uns Massiv, wer hier der Chefpredator ist: Massiv.

Fährt der Löwe nun unantastbar durch den Wedding, während du im Mazda kommst („M10“), wird schnell der hier gesuchte Spagat deutlich: einerseits ist Massiv inhaltlich weiterhin „Deutschraps Al-Qaida“ („Im Schatten der Skyline“), hat als „allerhöchste Priorität Geld machen“ („Im Schatten der Skyline“) und postet, falls ihn jemand dissen sollte, seinen „Riesenschwanz bei Instagram“. Andererseits fußt das Klangbild des Albums, konträr zu seinem bisher epochalen wie brachialen Soundgerüst, nun auf deutlich traplastigerem Untergrund, courtesy of Abaz. Natürlich bekommen wir auch den gefühlvollen („Mein hellster Stern am Himmel“) und reflektierenden („BGB X„)  Al Massiva zu hören. Bis dahin, gemessen an der Promo, keine Überraschung.

Neben einer ganzen Gerölllawine an inhaltlich stereotypen Massiv-Bangern, sticht inhaltlich vor allem „BGB X“ aus der Masse der gewaltbereiten Testosteron-Tonlage hervor. Der Löwe erzählt uns hier seine Version der massiv’schen Autobiographie, von früheren BGB-Zeiten, über seine Major-Phase sowie die Strapazen der Indie-Neufindung. Mehr dieser Einblicke in Massivs reale Vergangenheit wären durchaus wünschenswert gewesen. Mehr von Wasīm Taha. Weniger konstruierte Ausflüge mit der Walter, dem Raketenwerfer und anderen Totschlagargumenten gegen die annonymen Wack-Mcees und Studio-Gangster.

It’s the sound of the police: alternativ hätten auch weitere Perspektivausflüge alà „Meine Bullenmarke glänzt“ einen Anspielpunkt verdient. Als Beinahe-Soundtrack zu seiner Promo-Comedy Momo und Alimit Al Gear, rappt Massiv hier durch die Augen eines von koksgeschwängerter Hybris infizierten Polizisten, der im Prinzip ein Gangsta in Uniform sein möchte. Nun ist das grundsätzlich nichts anderes, als das altbekannte Wolf-im-Schafspelz-Konzept, kann aber durch die gewohnt überspitzten Bilder Massivs durchaus überzeugen.

Mit Rückblick auf seine Diskographie betritt Massiv auf „#M10“ musikalisch durchaus individuelles Neuland. Die Mischung aus Trap, A$AP Rocky-Adaptionen und punktuellem Snapmusic-Einfluss verleiten den Löwen teilweise zu für ihn ungewohnten Betonungen, was Stimmlage, Flow, und Lautstärke betrifft. Weiterentwicklung mit dem Zaunpfahl. Die Souveränität und die Erfüllung des eigenen Anspruchs, sich stetig von Release zu Release zu steigern, zeigt Wirkung: Ingesamt liegt uns hier wohl das rap -und flowtechnisch abwechslungsreichste Album vor, dass Massiv jemals aufgenommen hat.

Die Frage zu beantworten, inwieweit künstlerischer Fortschritt durch Experimentbereitschaft im Ergebnis zu Qualität führt, gelingt Massiv auf „#M10“ in der Summe jedoch nur auf halber Strecke. Will Mr. Al Massiva seine „BGB“-Fans auf textlicher Ebene, wenn auch in geschwächter Ausführung, weiterhin mitnehmen, und konträr dazu seine Flows und Produktion auf ein weiteres Schlachtfeld führen, sind die Tracks, welche als gelungene Verbindung beider Ansprüche gelten können, nicht in der Fülle vorhanden, die es zu einem stringenten Album bedürfte. Zu sehr wirken die Neuerungen und zweifelsohne mit Potenzial versehenen Anspielpunkte auf „#M10“ unausgereift. Massiv selbst teilte in der Vergangenheit oft zwischen einem „großen Album“ und der Vorbereitung auf ein solches. In der Konsequenz bleibt „#M10“ ein Ausblick in die Entwicklung eines Künstlers, ein mögliche neue Richtung, ein Trainingsprogramm mit guten, aber auch minder gelungenen Ansätzen. Ein Album als ambitioniert zu beschreiben, kann gut klingen, mag aber auch das härtest mögliche Kommentar darstellen. Dem Anspruch eines Löwen kann es bei weitem nicht gerecht werden.

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