Review: J. Cole – 4 Your Eyez Only

„4 Your Eyez Only“ hob Ende des vergangenen Jahres die Messlatte für die Amerikanischen HipHop Releases nochmal deutlich. Es gab wenige Alben, die eine derartig starke Produktion und inhaltliche Leistung an den Tag legten. Die Beats sind mit einer Präzision geschmiedet worden, wie man es heutzutage nicht oft sieht. Cole hat meistens auf Samples verzichtet und für die langsamen, kontemplativen Tracks häufig selbst Instrumente eingespielt, etwa Geigen und Trompeten. Gleichzeitig hat er aber auch für die aggressiveren Titel 808s mit HiHats und satten, makellos gestochenen Bässen benutzt.

Generell ist das Album sehr melodiös. Cole singt sehr viel, arbeitet mit der Verstellung seiner Stimme (man denkt kurz auf „Deja Vu“, dass 2Pac ein Feature hat) und setzt die Instrumente immer zum richtigen Moment ein. Die intensive Arbeit lässt sich in der Doku „Eyez“ beobachten. Auch, dass er sich zwei Jahre Zeit gelassen hat, um einen Nachfolger für den Vorgänger „2014 Forest Hill Drive“ zu präsentieren, zeigt, wie präzise er daran gearbeitet hat. Und eines ist klar, die riesigen Fußstapfen, die der Vorgänger in der Szene hinterlassen hat, konnten ohne Zweifel gefüllt werden.

Diese Zeit musste sich Cole aber auch nehmen. Es ist das persönlichste Album, das seine Fans je zu hören bekommen haben und in den letzten Jahren eines der persönlichsten Werke überhaupt. Erzählt wird eine durchgehende Geschichte, besser gesagt zwei. Denn Cole verwebt meisterlich seine eigene Geschichte mit der eines Freundes James McMillan. Ihre Leben verlaufen sehr lange parallel zueinander, sie wachsen zusammen auf und müssen mit den selben Problemen eines jungen Schwarzen in Amerika leben („For Whom The Bell Tolls“ und „Ville Mentality“), sie finden und verlieben sich in die Liebe ihres Lebens („Deja Vu“ und „She’s Mine Pt.1“), sie werden erwachsen und reflektieren über ihre Veränderung („Change“). Sie merken während der Schwangerschaft ihrer Frau oder Freundin, dass die Familie der eigentliche Sinn für sie im Leben ist und das einzige „echte“ ist („Foldin Clothes“). Beide bekommen eine Tochter, die ihnen die Welt bedeutet und dazu bringt Hoffnung zu spüren („She’s Mine Pt. 2“). Sein Freund wird allerdings in einer Schießerei getroffen und stirbt. Im Titeltrack am Ende wird dann – Achtung, Spoiler – alles aufgelöst: James hatte Cole darum gebeten, seiner Tochter über sein Leben zu erzählen, falls dieses frühzeitig enden sollte, so dass er für immer bei seiner Tochter sein kann. Cole rechtfertigt also die Entscheidungen, die James getroffen hat und wie er in diese Situationen geraten ist. Das alles, um die Tochter vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.

Diese Geschichte über ein ganzes Album zu erzählen ist großartig und nimmt einen sofort mit. Was das „4 Your Eyez Only“ aber so beeindruckend und so unglaublich interessant macht, sind die wechselnden Erzählperspektiven. J. Cole wechselt so nahtlos von seiner eigenen Sichtweise zu der seines Freundes, dass man es nicht immer gleich merkt. Er wählt seine Worte auch bewusst so, dass die Texte sowohl auf ihn als auch auf James zutreffen. Alles wird bewusst offen gehalten, um diese spezielle Wirkung zu erzeugen. Man muss das „4 Your Eyez Only“ sehr oft hören, um wirklich alle Einzelheiten aufnehmen zu können und selbst dann bleiben manche Dinge der eigenen Interpretation überlassen. Sein Co-Produzent Elite bestätigt zwar, dass die Lieder oft aus einer anderen Perspektive vorgetragen werden, genaueres muss man aber selbst interpretieren.

Auch lyrisch ist das Album sehr beeindruckend. Aber seien wir ehrlich: was anderes wäre auch von J. Cole nicht zu erwarten. Es gibt viele Zeilen, deren Doppeldeutigkeit und Bedeutung erst beim mehrmaligen Hören klar werden. Manche Sachen können auch erst beim zweiten Mal verstanden werden, weil sie zum Beispiel auf den für den Zuhörer, noch nicht absehbaren Tod seines Freundes anspielen. Außerdem ziehen sich bestimmte Motive durch das ganze Album und werden immer wieder kurz angeschnitten: Das „Schauspielen“, das die Jugendlichen betreiben müssen, um im Leben weiterzukommen, oder die „Mauer“, die sich zwischen ihrem wahren Ich und ihrer gestellten Persönlichkeit aufbaut und erst durch ihre Liebe (zur Frau oder zur Tochter) runter gerissen werden kann.

Als ich den Sinn des Albums so richtig verstanden hatte, sofern das komplett geht, sind mir sofort die Parallelen zu Kendrick Lamars „good kid, m.A.A.d. city“ aufgefallen. Beide Alben erzählen auf Albumlänge ein zusammenhängende Geschichte und behandeln die Probleme der jungen Afro-Amerikaner in den USA indem sie auf das „gang banging“ und die „hood mentality“ eingehen. Sie zeigen wie schwierig es ist sich aus dem Zyklus zu befreien. Die Künstler benutzen verschiedene und oft vielschichtige Erzählperspektiven, weshalb man sich lange Zeit fragt, wer gerade redet: ist das Kendrick, ist das Cole, ist das James oder ist das jemand komplett anderes? Kritik an der Behandlung und der Aussichtslosigkeit die viele verspüren wir ausgeübt: ihre Chancen sind „sell dope, rap or go to NBA, in that order“. Auch die Auflösung der beiden Alben gestaltet sich ähnlich. „Sing About Me“ und „4 Your Eyez Only“ sind die Botschaft der Protagonisten für die Ewigkeit. So wie Kendrick, verleiht Cole seinem Freund Unsterblichkeit indem er seine Geschichte erzählt und auf seinem Album festhält. Nur dass Cole es für James‘ Tochter macht, sodass sie seine Geschichte hört und er ihr vielleicht doch noch durch das Leben helfen und das Vorbild sein kann, das er immer sein wollte.

Dennoch sind es natürlich zwei eigenständige Alben, die ihren eigenen Charakter haben, ihre eigene Aussage vermittelt und eine komplett andere Stimmung.

Auch wenn manche Lieder alleine stehend vielleicht nicht die besten Tracks aller Zeiten oder des Jahres sind, ergeben sie zusammen ein Gesamtbild, was sie wieder hoch zieht. Es ist überhaupt kein Banger-Album für den Club und auch kein hartes Streetalbum (falls irgendjemand diese Erwartungshaltung hatte). Viel eher kritisiert es genau diese Art von Rap, in der das Kriminelle als „real“ erachtet wird. Das Ziel ist es eine Aussage zu vermitteln und diese in den Vordergrund zu stellen. „4 Your Eyez Only“ bedarf also keiner plakativen Beats, krasser Features oder catchiger Hooks (obwohl diese trotzdem vorhanden sind), denn der Schwerpunkt liegt auf der Message. Man sollte sich also Zeit nehmen um das Album zu verstehen – es lohnt sich.