Xatar – Alles oder Nix: Bei uns sagt man, die Welt gehört dir [Buchkritik]

Autor: ElmoMW

In Zeiten, in denen Authentizität, Realness und Kredibilität offenbar an Bedeutung verlieren (Stichwort: „Image-Rapper“), ist Xatar ein häufig genanntes Beispiel, das die Fahne all dieser Ideale noch hochhält.
Xatar ist Deutschlands einziger Gangsta-Rapper, der wirklich zum Gangster wurde. Und der wirklich gelebt hat, worüber er rappt.“, heißt es dazu vielversprechend im Klappentext seiner vor einigen Wochen erschienenen Autobiographie, „Alles oder Nix: Bei uns sagt man, die Welt gehört dir“. „Gangsta-Rapper“ fasst die thematischen Schwerpunkte des Buches gut zusammen: Xatar als Gangster einerseits und Xatar als Rapper andererseits, wie er zum Gangster wurde, wie er zum Rapper wurde und wie er mithilfe des einen das andere aufgab.
Doch Giwar Hajabi wurde weder als Gangster noch als Rapper geboren und so beginnt er bei der Vorgeschichte, seiner Kindheit. Xatar erzählt, wie er in prekären Verhältnissen in Bonn aufwächst, wie ihm des Öfteren durch Alltags-Rassismus Anerkennung verwehrt wird und wie er diese folglich auf der Straße sucht – und findet.

Egal was ich gemacht oder versucht habe – diese Leute [die Lehrer] haben in mir immer nur den Asi-Kanaken gesehen. […] Und je mehr ich spürte, wie schwer es für Leute wie uns war, in der Gesellschaft Anerkennung zu finden, desto mehr wollte ich das [ein Gangster] auch werden.

Es folgt der Einstieg in den Drogenhandel, die illegalen Geschäfte werden größer („aus Grün wurde Weiß“), bis zu dem Moment, in dem der erste Haftbefehl vorliegt und Xatar nach London flüchtet, um diesem zu entgehen und Musikmanagement zu studieren. Von nun an gewinnt Musik, für Xatar eine „Parallelwelt“ zur harten Realität der Straße an Bedeutung. Zuvor war sie eher nebensächlich in seinem Leben. Schließlich fasst er den Entschluss, ein eigenes Musiklabel zu gründen, um „mit dem Straßenleben zu brechen“.
Doch das Straßengeschäft gibt er nicht sofort auf, es läuft parallel weiter und gewinnt letztlich wieder die Oberhand, was im Überfall eines Goldtransporters mündet. Es folgen eine internationale Fahndung und de Flucht, die auf Hajabis Ergreifung im Irak hinausläuft.

Dies bedeutet zugleich das Ende des ersten Teils der Autobiographie: „Freiheit“. Der Rahmen, in dem Xatar seine Lebensgeschichte bis zu diesem Punkt erzählt, ist eine Verhörsituation im irakischen Gefängnis. Dieser Kunstgriff ist nicht nur erzählerisch von Bedeutung, wenn man die Glaubwürdigkeit des Buches beurteilen will – doch dazu später mehr.

Der zweite Teil des Buches, „Gefangenschaft“ , beschreibt Xatars von Folter geprägte Zeit im irakischen Gefängnis,  bis hin zur Auslieferung nach Deutschland. Darauf folgen Untersuchungshaft, Prozess und Verurteilung mit anschließendem mehrjährigem Gefängnisaufenthalt in Deutschland.
Neben den eindrucksvollen und schonungslosen Schilderungen des Aufenthalts im irakischen Gefängnis und der Entstehungsgeschichte des ersten deutschsprachigen „Knastalbums“ , sind es Xatars Reflexionen des eigenen Handelns und von Themen, die ihn abseits von Rap beschäftigen, die bemerkenswert sind, da sie aktuelle politische Bezüge aufweisen.

Ein Beispiel hierfür sind Xatars Äußerungen über Religion. Der Glaube, der vor der Gefangenschaft für Xatar eher nebensächlich war, nimmt in seinem Leben eine bedeutendere Rolle ein. Er versucht in einer verhältnismäßig langen Passage zwischen den drei großen monotheistischen Religionen zu vermitteln und das Bild des Islam zurecht zu rücken.

An anderer Stelle beschreibt Xatar ein Gespräch, das er in einer Jugendhaftanstalt mit den jugendlichen Insassen führt. Er legt ihnen argumentativ dar, dass es rational gesehen besser wäre, auf legalem Wege sein Geld zu verdienen – insbesondere wenn man verurteilt wird, versteht sich. Der Einwand eines Jugendlichen dazu: „Aber…Ich habe keine Arbeitserlaubnis. Wir sind Asylanten. Ich will ja arbeiten…aber ich darf es nicht.“ Worte, die die hiesige Asylpolitik und das „abgefuckte System“ infrage stellen.

Auch wenn häufig verschiedene Geschichte aneinander gereiht werden, die nicht unmittelbar zusammenhängen, so gelingt es Xatar doch, das Große im Blick zu behalten und Stringenz um einen weitreichenden Spannungsbogen zu flechten, so dass keine Langeweile aufkommt. Das erklärte Ziel seiner Niederschrift, „diese Leben, die ich gelebt habe, wieder zusammenzubinden“ wurde also erreicht.

Xatar verwendet eine ungeschönte, direkte, aber bildreiche Sprache, die zu Teilen auch aus Straßenslang und Vulgärsprache besteht. Durch detaillierte Beschreibungen und Dialoge gelingt es ihm, die Geschehnisse zum Leben zu erwecken. Dies gelingt ihm so gut, dass man sich, angesichts der Brutalität einiger beschriebener Geschehnisse, gelegentlich einreden möchte, sie seien lediglich Fiktion.

Ob manche Passagen tatsächlich näher an Fiktion als an der Realität, beziehungsweise der Wahrheit sind, lässt Xatar sowohl in der Lektüre als auch  in Interviews offen. Auf die Frage hin, was er dem „Kerl“, der ihn im Irak verhört habe – also letztlich auch dem Leser -, erzählt habe, antwortet Xatar: „Die Wahrheit, wie sie hätte sein können.

Es gab für mich nicht mehr nur eine Wahrheit. Es gab unzählige. Es gab eine Wahrheit für meine Familie, es gab eine Wahrheit für das Gericht, es gab eine Wahrheit für meine Kunst. Und es gab meine Wahrheit. // Heute ist meine Wahrheit die Summe aller Fakten.

Ob die Autobiographie durch diese schwammige Aussage an Glaubwürdigkeit verliert oder sogar Xatar allgemein Kredibilität einbüßt, ist genauso wenig zu klären, wie die Frage nach dem Verbleib des geraubten Goldes. Eine Grundskepsis jedenfalls bleibt bestehen.

Bemerkenswert ist, dass die einzige geschwärzte Stelle, die nicht den Goldraub betrifft, die Schwärzung des Namen eines Rappers ist, auf den er seit der beschriebenen Begegnung „echt einen Kick“ habe. Was das über die hiesige Rapszene aussagt, gilt es, an anderer Stelle zu klären. Wer sich hiervon mehr erhofft – Anekdoten und Insiderinformationen aus der Rapszene etwa – wird derartiges zwar reichlich vorfinden, aber der Schwerpunkt, sowie die Stärken des von „Alles oder Nix: Bei uns sagt man, die Welt gehört dir“  liegen doch an anderer Stelle. Vor allem der authentische und lebendig beschriebene Einblick, den Xatar dem Leser in eine Welt gewährt, die vom Großteil der Gesellschaft nur oberflächlich oder gar nicht wahrgenommen wird, gestaltet die Lektüre interessant.