Der Fall Schwesta Ewa – vielleicht zu wahr, um schön zu sein

Seit den ersten Gehversuchen der Subkultur rund um deutschen HipHop kommt die stets diskutierte Bezeichnung eines Künstlers als real einer Art Gütesiegel gleich. Der gesteigerte Erfolg durch ein gewisses Untergrund-Image und die Anziehungskraft von Regellosigkeit belegen dies. Doch wo hört die Realness im positiven Sinne auf und wie ist es zu bewerten, wenn diese in eine Realität kippt und eventuell gar nicht mehr zu feiern ist, wie zur Zeit bei der Frankfurter Rapperin Schwesta Ewa? Ein Gastkommentar über das Spannungsfeld zwischen achtbarer Echtheit, Charme der Halbwelt und tatsächlichem Handeln.

Im November 2016 wurde bekannt, dass eine gewisse Ewa Malanda, den meisten wohl besser bekannt unter ihrem HipHop-Alias Schwesta Ewa aufgrund schwerwiegender Vorwürfe in Untersuchungshaft gelandet ist. Der darauf folgende Aufschrei in der Rap-Landschaft war groß, nicht zuletzt, weil die Anschuldigungen gegen Ewa definitiv als das exakte Gegenteil eines Kavaliersdelikts zu bezeichnen sind: sie soll unter Anderem mehrere, teils noch minderjährige weibliche Fans wirtschaftlich abhängig gemacht und der Prostitution zugeführt haben, soll aktiv Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zuhälterei betrieben haben. Das sind Anschuldigungen, die, wenn sie sich denn als wahr herausstellen sollten, durch nichts zu rechtfertigen oder entschuldigen wären. So weit, so schlecht.

Ich hatte Ewas Karriere im Rap-Geschäft seit etwa 2013 mal intensiver, mal weniger inbrünstig verfolgt, habe sie seitdem lediglich einige Male mehr oder weniger zufällig als Gast-Act bei irgendwelchen Konzerten anderer Künstler erlebt und eher halbherzig in ihre bisherigen Releases reingehört. Ich war definitiv nie ein Fan ihrer Musik, verspürte aber durchaus Sympathie für ihre Selbstinszenierung und empfand das bloße Vorhandensein der Figur Schwesta Ewa in der Szene als einen sehr spannenden und erfrischenden Umstand. Da machte plötzlich eine Frau, die geradewegs aus dem Frankfurter Schmuddel-Milieu zum Rap gekommen war, mit Gangster-Rap von sich reden! Sie hielt der zutiefst reaktionären, männerdominierten und in weiten Teilen sehr unreflektierten Szene auf freche und zum Teil ziemlich prollige Machart den Spiegel vor und stellte dabei nicht im Geringsten den Versuch an, ihr vorheriges berufliches Dasein als Prostituierte im Bahnhofsviertel der Bankenstadt zu verheimlichen: ein Skandal, den einige wohl bis heute nicht verdaut haben und den ich persönlich allein deshalb sehr unterhaltsam fand. Genau deswegen habe ich mir fast jedes Interview mit Ewa angeschaut oder durchgelesen und fand sie dort eigentlich immer authentisch und meistens angenehm. Nicht zuletzt solidarisierte ich mich in »Feindin deines Feindes ist mein Freund«-Manier häufig mit ihr, weil beim ritualisierten Ewa-Bashing in den jeweiligen Kommentarspalten offensichtlich wurde, wie viele unschöne gesellschaftliche Ressentiments über Prostituierte und das weibliche Geschlecht im Allgemeinen sich an ihrer Person entluden.

Natürlich, ihr Auftauchen sorgte für massig Diskussionsstoff. Nicht zuletzt, weil Ewa vom ersten Track an eine Künstlerin war, die stark mit ihrer unverblümten Ehrlichkeit kokettiert hat. Ihre Mission war es, teils bittere Wahrheiten über die Sexindustrie, die Drogenszene und die unabwendbar damit verbundene brutale Gewalt in Deutschlands Unterwelt auf selbstbewusste Weise auszusprechen und dadurch zu provozieren. Sie hat in jeder Situation das Gefühl vermittelt, dass sie bereit ist, ihre Geschichte und ihren Charakter lückenlos und vollständig offen zu legen, immer nach der Devise, dabei hundertprozentig real zu sein. Und genau das war auch ihr Kapital, das sie in die Charts und ins weit über die Szene hinausgehende Feuilleton deutscher Medien katapultiert hat: ihre unbestechliche Realness. Da gab es Schläge, Tritte und Pöbeleien vor laufenden Kameras und knallharte Geschichten über Vergewaltigungen, Crack rauchen, Abzieh-Tricks im Sexarbeiterinnen-Business und das Leben im Frauenhaus.

Ewa war stets real, weil sie die Inhalte und Standpunkte, ja die eigenen Erlebnisse, die sie in ihrer Musik und in Interviews beschrieb, immer kompromisslos verkörpert hat. Die Realness eines Künstlers oder einer Künstlerin zeichnet sich ja dadurch aus, dass er (oder sie) sich, in keiner Situation verstellt und keine Kunstfigur ist. Dass das wohl auf fast niemanden mehr zutrifft als auf Schwesta Ewa, lässt sich wohl kaum bestreiten. Vielmehr finde ich, dass besonders im Fall Ewa ein spannendes Phänomen stattgefunden hat, in dem eben diese Realness eine enorme Schlüsselrolle eingenommen hat: Ewa genoss und genießt einen enormen Bonus aufgrund ihrer Echtheit.

Sie ist damit natürlich bei weitem nicht die erste im Deutschrap-Kosmos, der ein solcher Bonus zugute kommt, der Realness-Grad ist zweifelsfrei ein wichtiges Kriterium in der Diskussion um guten oder schlechten Rap. Ein Xatar hätte ohne Knastaufenthalte, Goldraub und Hugh Hefner wohl kaum einen derartigen Bekanntheitsgrad erlangt und auch ein Blokkmonsta hätte ohne die diversen BPjM-Verfahren und Verurteilungen wohl auch nicht seinen Legendenstatus höchsten Grades. Es ist ja auch richtig und wichtig, dass Realness, auch wenn sie mit dem kriminellen Image eines Künstlers zu tun hat, als vielleicht wichtigstes Kriterium für guten und authentischen Rap steht, denn eine gewisse Echtheit in den Inhalten von Raptexten garantiert ganz einfach die langfristige Glaubhaftigkeit und Seriosität eines Artists und, was ich viel wichtiger finde, auch von Rap im Allgemeinen. Wenn Rap unter anderem als Sprachrohr der Unterdrückten, der Minderheiten und auch der Gesellschaftskritik dienen und damit gesellschaftlich ernst genommen werden will, dann darf er natürlich keine Lügengeschichten erzählen. Und natürlich darf er auch aus dem Verbrecher-Business kommen.

Ich möchte versuchen, diese These auf Schwesta Ewa zu übertragen, denn gerade mit dem Wissen über die hässlichen Machenschaften, die sie neben ihrem Künstlerinnen-Dasein betrieben haben soll, ist das wirklich spannend. Hier spielt die eingangs erwähnte Empörung nach der Bekanntgabe der Festnahme der Frankfurter Rapperin eine entscheidende Rolle, denn irgendwie konnten und wollten die Leute (und hier möchte ich mich selbst keineswegs ausnehmen) anfangs so gar nicht verstehen, wie dreckig Ewas Weste möglicherweise doch ist. Es käme jedoch einer Lüge gleich, in der Rückschau zu behaupten, Ewa habe der Rap-Szene in Texten oder Interviews wichtige unliebsame Details über die Ausrichtung einiger ihrer Tätigkeiten verschwiegen, denn sie selbst hat niemals einen Hehl daraus gemacht, dass sie zwar die eigene Karriere als Prostituierte an den Nagel gehängt hat, sie aber trotzdem immer noch gute Kontakte ins Milieu pflegt und dort auch noch irgendwie aktiv ist. Ganz im Gegenteil: Ewa hat sich sogar stets aktiv darum bemüht, auch künftig ein möglichst kriminelles Image zu bewahren. In ihrer Video-Auskopplung „Escortflow“ schildert sie gleich in der ersten Line, dass sie ihr „Schnapp mit Snuff oder Sluts im Puff“ mache und später im Text, dass ihre „Nutten makellos“ seien. Immer wenn sie gefragt wurde, was sie denn da so genau treibe, wenn sie denn noch mit Straßenstrichen und Bordellen zu tun habe, machte sie einen auf »ich sag jetzt besser nichts, sonst fliege ich ja auf«, ließ uns alle jedoch immer durch die Blume wissen, was abging. Parallel dazu oder gerade deshalb wurde sie flächendeckend dafür gefeiert, dass ihre Geschichten über die Karriere im Rotlichtmilieu, die schillernde Unterwelt deutscher Großstädte und das große leicht verdiente Geld so echt und greifbar waren. Eine im Nachhinein leicht bittere Einsicht ist die, dass scheinbar allein der Umstand, dass Ewas Geschichten so authentisch und irgendwie romantisiert waren, ausreichte, um im Zweifelsfall auch darüber hinwegzusehen, was sie im Detail inhaltlich aussagten.

Es liegt also besonders an uns selbst, den Konsumenten der Figur Schwesta Ewa, dass wir ihre Rolle im Milieu und existierende gesellschaftliche Zustände über, wie sie sagt „schnelles Geld in der freien Marktwirtschaft“, entweder verklärt oder unterschätzt haben. Beziehungsweise, und das scheint mir am plausibelsten, sie einfach nicht wahrhaben wollten. Oder sie uns zwar bewusst war, wir sie aber einfach nicht dramatisch fanden, wobei ich hier eigentlich schon voraussetze, dass der Großteil von euch Menschenhandel und Zwangsprostitution ähnlich schäbig, ekelerregend und untragbar findet wie ich. Es wundert mich schon sehr, dass gerade jetzt, wo der Verdacht gegen sie im Raum steht, eine Art »Free Ewa«-Mitleids-Kampagne in der Deutschrap-Landschaft und über sie hinaus stattfindet, also scheinbar sogar noch die Vorwürfe gegen sie irgendwie ihr Punkte bringen.

Ich selbst war zuallererst, und das mag skurril klingen, enttäuscht, als ich von Ewas vermutlichem „Nebenerwerb“ hörte. Ungefähr so, wie man von einem vermeintlichen Freund enttäuscht ist, den man anders eingeschätzt hatte und glaubte gut zu kennen, bevor er sein wahres Gesicht zeigte. Okay, eigentlich ein wirklich völlig überzogener und lächerlicher Vergleich im Anbetracht dessen, dass ich Ewa weder persönlich kenne, noch ernsthaft ihre Musik gefeiert habe, das gebe ich zu. Aber ich war enttäuscht. Im Nachgang muss ich selbstkritisch feststellen, dass ich ihre Rolle für mich tatsächlich stark romantisiert und verklärt habe, so wie viele andere auch, ob Rap-Fans oder auch Journalisten. In erster Linie hatte sie bei mir einen Status, der es irgendwie ausschloss, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täterin sein könnte. Ganz ehrlich: das, was Ewa da vorgeworfen wird, ist nun mal die absolut logische und hundertprozentig reale Konsequenz aus ihren Texten, ihren Aussagen und ihrem öffentlich zelebriertem Lifestyle. Die Empörung ist also eigentlich fast lächerlich und dabei muss ich mich auch an die eigene Nase fassen.

Abschließend stellt sich mir die Frage wie viel Rap, der vorgeblich oder erwiesenermaßen besonders real ist, eigentlich darf und ob er alle Grenzen überschreiten darf und trotzdem feierbar ist. Anders ausgedrückt, ob die Prämisse »je realer der Künstler, desto mehr darf er sich erlauben und ist trotzdem noch cool«, die ich auch meinem persönlichem Konsumverhalten zeitweise unterstelle, überhaupt gelten darf. Der Fall Schwesta Ewa beweist für mich eklatant das Gegenteil. Trotzdem ist jeder Fall unterschiedlich zu beurteilen. Denn für mich ist auch klar, dass ein Künstler, der real ist und dabei trotzdem keine grobe Scheiße à la Zuhälterei oder der Gleichen verzapft (und damit muss er nach meinen Moralvorstellungen um Gottes Willen nicht kategorisch brav oder bis ins Detail gesetzestreu sein … ) natürlich um Welten cooler ist, als der, der in derartigen Mist verwickelt ist. Fakt ist auch, dass Schwesta Ewa ihre Sympathie bei mir erstmal verspielt hat und diese auch nicht zurückgewinnen wird, falls an den Vorwürfen gegen sie irgendetwas dran ist, weil sie damit eine klare Grenze überschritten hätte. Sie selbst hingegen sitzt dieser Tage in der JVA Preungesheim, wartet auf ihren Prozess und ist damit gewissermaßen realer denn je. Das macht die ganze Sache aber nicht besser, vielleicht sogar ein bisschen schlimmer.