Es ist 5 vor 12 – Deutschrap kauft Supreme [Kommentar]

Auch wenn das Jahr 2017 noch nicht final in seiner Zielgeraden eingetroffen ist, wird an einer Bilanz wohl kaum noch zu rütteln sein: Deutscher Rap war noch nie so groß, noch nie so breit gefächert, noch nie so ertrag- und rundum erfolgreich wie im Hier und Heute.

Hätte Nostradamus im Spätherbst 2010 nur ansatzweise vorhergesagt, wo Deutschrap exakt sieben Jahre später stehen würde, hätte man ihm wahrscheinlich nicht nur den Vogel gezeigt, sondern ihm den Status als Hellseher gleich vollends aberkannt. Ebenso ungläubig hätte man damals wohl auch auf das zu diesem Zeitpunkt wenig absehbare Ausmaß an globalen politischen Umbrüchen, verheerenden Naturkatastrophen und postkriegerischen Bedrohungsszenarien reagiert, die diesen Planeten dieser Tage strapazieren.

Wie auch immer. Aus heutiger Sicht wissen wir beides besser. So sensationell es ist, dass Sprechgesang auf Deutsch in der Zwischenzeit einen beinahe unwirklich erscheinenden Sprung zu quantitativer und kommerzieller Größe gemacht hat, so gruselig erscheint die weltpolitische Lage.

Eine Flut von Parteien aus dem neurechten Spektrum annektieren in einem regelrechten Sprint die nationalen Parlamente, ein eisiges Klima der Hetze, Konkurrenz und Abschottung im Handgepäck. Wo es in Kreisen besessener Despoten wieder Mode zu sein scheint, den jeweils anderen zum offenen Schwanzvergleich anzustacheln, liegt die Einsicht nahe, dass es an der Zeit ist, sich mindestens zu positionieren.

Doch leider verschlafen es die größten Vertreter unseres Genres auch in diesem Jahr, auf maßgebliche politische Entwicklungen analytisch oder gar kritisch einzugehen. Stellungnahmen oder Signale im millionenfach geklickten Rahmen, die, in welcher Form auch immer, auf Werteverschiebungen und politische Entwicklungen im großen Stil eingegangen wären, suchte man abgesehen von wenigen Ausnahmen vergebens. Und wenn es dann doch mal „politisch“ wird, kommt es eher zu einfallslosen Vergleichen des eigenen Characters mit Donald Trump oder diffusen Putin-Huldigungen.

Hinzu kam, dass die Hymnen, die die Herzen der jungen Rapfans flächendeckend höher schlagen ließen, zumeist auffällig belanglose und hedonistische Themen behandeln, das Eingeständnis von grundlegendem Desinteresse teils sogar als Akt der Rebellion darstellen. Stumpfe Liebeserklärungen an funkelnde Güter aus der Warenwelt, offen dargelegter Egozentrismus und tausende Referenzen an neumodische Lifestyledrogen überwiegen, zumindest in den Charts, Tracks mit nachdenklichem oder skeptischem Charakter. Wer die Sache von außerhalb beobachtete, muss den Eindruck gewonnen haben, dass unsere Kultur wenig übrig zu haben scheint für eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt im kapitalistischen Verwertungskreislauf oder, um es konkret auf dieses Jahr zu beziehen, dem Erstarken rechter Parteien in den Parlamenten.

Vielmehr schien „Shorty […] ein‘ Blackout“ zu haben, als mit der Alternative für Deutschland erstmals seit 1945 eine rechtsextreme Partei ins Abgeordnetenhaus einzog. Kurz vorher hatte man der selbsternannten „Alternative“ in einem törichten Versuch des Dialogs auch noch eine leicht zu bespielende Plattform geboten und somit, ich drücke es verständnishalber in einer Szene-Floskel aus, ihre Promophase unnötig gepusht.

Nach der Wahl reagierte man neben ein paar inhaltsmageren „Ihr seid Hurensöhne“-Posts eher mit handzamen Hits als mit kantigen Statements. Die Erklärung, warum rechte Parteien samt ihrer Inhalte verachtenswert sind, wie giftig ihre rassistische Propaganda auf ein solidarisches Zusammenleben einwirkt, welche Gefahr tatsächlich von ihrer Hetze ausgeht und wie grundlegend ihre konservativen und chauvinistischen Standpunkte einer fortschrittlichen Gesellschaft im Wege stehen, überließ man, im Versteck kauernd, den Rockstars und Indie-Bands der alten Schule.

Nicht einmal die Gründung einer eigentlich maßgeschneiderten HipHop-Partei, die im Kontext des Wahlkampfes aus den eigenen Gefilden heraus vonstatten gegangen war, hatte zu einer erwähnenswerten Wendung innerhalb der Szene geführt. Schade.

Versteht mich nicht falsch: Nicht jeder Exponent unserer Gattung muss oder soll die Dichte an politischen Inhalten an das Niveau eines Disarstar, Grim104 oder PTK beziehungsweise den eigenen Reflexionsgrad an das Level eines Megaloh oder Veedel Kaztro angleichen …

Aber, und man mag mich im Anschluss an diese Zeilen meinetwegen als altmodischen Rap-Romantiker betiteln: Die Achtung bestimmter Werte und ein Feeling für essentielle politische Anliegen darf im Kosmos Deutschrap nicht zu kurz kommen, tragende Säulen wie Solidarität und radikaler Gerechtigkeitssinn nicht in Vergessenheit geraten. Dass er dazu in der Lage ist, progressive Geisteshaltungen zu vermitteln und dass er ein Sprachrohr für kritische Inhalte sein und gleichzeitig kommerziellen Erfolg haben kann, wissen wir von deutschsprachigem Sprechgesang aus der Vergangenheit nur zu gut.

Dass deutscher Rap damit nicht die Welt verändern wird, ist mir bewusst. Trotzdem glaube ich, dass eine Jugendkultur, deren Anhängerschaft im zweistelligen Millionenbereich angesiedelt sein dürfte und deren Schwerpunkt die Sprache ist, dazu im Stande sein sollte, eine gesellschaftlich wahrnehmbare Stellung zu beziehen, wenn in der Welt Dinge passieren, die ihrem Wertesystem grundlegend widersprechen.

In einer Zeit, in der einige Protagonisten aus Deutschraps Reihen die gigantischen Innenstadtfassaden der Metropolen zieren, darf dies nicht zu viel verlangt sein … Und beim Ausmaß musikalischer Stärke, geballter Kreativität und mitreißender Charaktere, die auf seinem Spielfeld existieren, erst recht nicht.

Kurzum: Für das Rap-Jahr 2018 wünsche ich mir, dass unser Genre die großen Bühnen wieder etwas inhaltlicher bespielt und sein Popularitätsniveau dabei halten kann. Wenn es dabei aneckt, soll es so sein. Amen.