Rap und Islam #1: Dr. Abdel-Hakim Ourghi


Spätestens seitdem Denis Cuspert aka Deso Dogg das Rappen im Berliner Untergrund aufgab und sich dem IS  in Syrien anschloss, wurde das Thema „Rap und Islam“ breit medial diskutiert. Häufig wurde dabei suggeriert, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen Rapmusik und Islamismus. Wer in der Debatte meistens nicht zu Wort kam, war die Szene selbst. Äußert sich doch mal jemand, wünscht man sich meist, er hätte es lieber gelassen. Greifen Rapmedien die Thematik auf, kommen Salafisten, Graue Wölfe und DITIB-Mitglieder unwidersprochen zu Wort. Unsere Interviewreihe „Rap und Islam“ will sich dem Thema differenzierter nähern: Verschiedene Gesprächspartner mit unterschiedlichen Zugängen zu beiden Themen kommen zu Wort. Dabei sind Dr. Abdel-Hakim Ourghi, Marcus Staiger, Lady Scar, Tim Pickartz, Ralf Fischer und B-Lash.

Den Anfang macht Dr. Abdel-Hakim Ourghi, muslimischer Reformtheologe an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Denis Cuspert aka Deso Dogg hat das Rappen aufgegeben und ist nach Syrien gegangen. Islamist zu werden, bedeutet u.a., dass man seine individuellen Freiheiten aufgibt. Wieso lassen sich trotzdem junge Menschen dafür begeistern?

Zunächst einmal gibt es da kein einheitliches Bild. Es gibt aber mehrere Vitas, mehrere Biografien, die uns vermitteln, dass es mit der Sozialisation der Betroffenen zu tun hat. Wir haben da zwei unterschiedliche Gruppen: Die hier geborenen Muslime und die Konvertierten. Alle durchleben eine Art Krise, sie sind auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben und irgendwann entdecken sie dann die Religion.

Das zentrale Moment ist also die Suche nach etwas Sinnstiftendem?

Es gibt mehrere Faktoren. Immer wieder stellen wir fest, dass bei solchen Menschen die Vaterfigur gefehlt hat. Sie hatten Probleme in der Erziehung: Der Vater war aus verschiedenen – bspw. privaten oder wirtschaftlichen – Gründen nie in der Familie. Solche Menschen suchen und finden die entsprechende Autoritätsfigur dann im Islamismus. Der Islamismus hat, banal gesagt, deutliche Antworten: Es gibt „das Gute“ und „das Böse“. Genau solche einfachen und klaren Antworten sind natürlich ideal für Jugendliche, denen genau diese klaren Vorschriften bis dato fehlten. Außerdem sind die Islamisten die besten Sozialarbeiter. Sie sprechen die Sprache der Jugendlichen, wissen, was sie wollen und haben Antworten für sie. Indem man die moderne, westliche Welt so verdammt, findet man in der imaginierten heilen islamischen Welt sogar scheinbare Lösungen für die Probleme der Jugendlichen. Und letztlich wird einem das Paradies versprochen. Letztlich sind das Strukturen, die verhindern sollen, dass die Jugendlichen selbst nachdenken. Stattdessen werden sie zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Man muss sagen, dass die Islamisten das bei uns sehr gut hinbekommen haben.

Lässt sich dann ein Versagen des Staates attestieren?

Tatsächlich muss der Staat dafür sorgen, dass es bessere Integrationskonzepte gibt. Viele der Betroffenen wurden von der integrativen Arbeit quasi nicht erreicht. Die Integration darf nicht den muslimischen Dachverbände oder gar Salafisten überlassen werden. Da ist der Staat gefordert, wirksame und professionelle Integrationskonzepte zu entwickeln, um die Jugendlichen vor Extremismus zu schützen.

Wieso entfernen sich denn so viele junge Menschen von westlichen Werten wie individueller Freiheit?

Das Individuum existiert in salafistischen Kreisen nicht. Es ist eine Gemeinschaft; das große Ziel ist, eine Einheit unter den Mitgliedern zu schaffen. Der Einzelne ist nicht mehr da. Man zielt darauf ab, dass alle das Gemeinschaftsgefühl verinnerlichen. Die fehlende Vaterfigur finden die Islamisten schließlich in der Gemeinschaft. Man wird als aktives Mitglied ernst genommen, man redet und diskutiert miteinander. Genau da beginnt ja auch die Instrumentalisierung: Durch den Salafismus sollen die Jugendlichen von der modernen westlichen Welt und ihren Idealen „befreit“ werden. Auf die drängenden Probleme werden fortan religiöse Konzepte und Antworten gefunden. Die Menschen finden ihr Heil in der eigenen Religion. Genau hier wird es gefährlich, weil sie anfangen, sich von der Gesellschaft abzugrenzen und in der salafistischen Gemeinschaft aufgehen.

Es handelt sich also um Jugendliche, die noch gar keine richtigen Individuen waren und dann nur noch dem Kollektiv Gefolgschaft leisten. Der Islamismus befriedigt also psychologische Bedürfnisse – Stichwort: Autoritärer Charakter.

Korrekt. Sie müssen sich das mal vorstellen: Diese Menschen werden so lange bearbeitet, bis sie aufhören selbst nachzudenken und nur noch gehorchen. Das Ziel ist, dass diese Menschen zu Waffen werden im Namen des politischen Islams. Man verspricht ihnen das Paradies auf Erden, wenn sie in den heiligen Krieg einziehen. Darüber hinaus wird das Bild der armen Muslime vermittelt – was Israel mit ihnen macht, was die USA mit ihnen machen. Da gibt es eine ganze Internetindustrie, in der sich tausende Bilder finden lassen, die dabei helfen, die Jugendlichen zu indoktrinieren.

Gibt es darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen gefühlter oder auch realer gesellschaftlicher Marginalisierung und der Konversion zum Islam?

Diese Menschen betonen stets den sozialen Aspekt: Dass sie von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt werden. Genau deswegen finden sie ja ihr Heil in der salafistischen Gemeinschaft, in der sie endlich einmal ernst genommen werden. Da spielen psychologische, sozial-gesellschaftliche, politische und religiöse Faktoren zusammen. Letztlich werden die Taten ja durch die Religion legitimiert – das Paradies muss man ja erst einmal anhand der Quellen versprechen werden. Insofern ist es auch schwierig zu sagen, dass der Islam nichts mit dem Islamismus zu tun hat. Trotzdem spielt auch die soziale Ausgrenzung der Menschen eine Rolle. Dadurch, dass die Jugendlichen sich als Opfer empfinden, beschleunigt das den Prozess der Radikalisierung.

Das heißt, man nutzt den Islamismus, um aus der eigenen Opferrolle heraustreten zu können und auch endlich mal Macht übernehmen zu können?

Man befreit sich seelisch: Man trifft endlich einmal selbst die Entscheidung diesen Weg zu gehen. Die Entscheidung ist für sie eine Art Befreifung von der gesellschaftlichen Autorität.

Sie hatten schon angesprochen, dass es nicht ganz aufgeht zu sagen, dass der Islam nichts mit dem Islamismus zu tun habe. Können Sie diesen Gedanken noch ein wenig ausführen?

Es stimmt bedingt, dass der Islam friedlich ist und nichts mit dem Islamismus zu tun hat. Man darf natürlich nicht verallgemeinern: Nicht alle Muslime sind Terroristen. Allerdings müssen wir auch sagen, dass die Islamisten sich eben auf konkrete Koranverse und die Tradition des Propheten, die sogenannte Sunna, berufen. Sie betrachten sich ja selbst als Muslime, sogar als die Besseren, weswegen sie ja glauben, den bewaffneten Djihad führen zu müssen. So kommen wir zu dem Ergebnis, dass diese Islamisten über eine ideologisch orientierte Theologie des Islam verfügen. Insofern hat der Islam sehr wohl mit dem Islamismus zu tun. Wenn gesagt wird, dass der Islam nichts, aber auch gar nichts mit Islamismus zu tun habe, ist das schlichtweg Verdrängung.

Abschließend: Der größte Feind des Islamismus ist das Individuum. Wie lässt sich denn gegen solch kollektiven Wahn vorgehen?

Der größte Feind des Islamismus ist die Vernunft. Wir Muslime müssen unsere Kinder ermutigen, ihren eigenen Verstand zu nutzen. Wir müssen erreichen, dass sie darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist. Nur durch diese grundlegende reflexive Vernunft können wir erreichen, dass aus ihnen eigenständige Individuen werden.